Leseprobe - Aretuzas Verhör

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Hans Martin Duseberg
Aretuzas Verhör oder
Die Strategie der Hasenfüße

Hans Martin Duseberg



Zero – Vorwort
Immer befürchtet er das Schlimmste. Auf diese Weise hofft er zu vermeiden, dass es geschieht. Der Blitz, meint er, schlägt ja auch nie dort ein, wohin man ge- rade blickt. Für ihn, den 60-jährigen Frührentner, der da- bei ist, sämtliche für eine Eheschließung im Ausland not- wendigen Dokumente samt deren Übersetzungen ins Portugiesische zu beschaffen, seine Berliner Wohnung aufzulösen und jeden Euro zusammenzukratzen für den Rückflug nach Brasília und sein künftiges Leben mit einer um dreißig Jahre jüngeren Frau, wäre es das Schlimmste, Adriana schaltete ihre Annoncen wieder, mittwochs im Correio Braziliense, unter der Rubrik Massagem & Relax. Das würde ihm die Suppe ganz schön versalzen. Auf das kleine Anwesen in Pirenópolis, in dem er dann alleine rumzuwerkeln hätte, würde er sich hundertpro nicht mehr freuen.
  Wenn aber Freude nur ein Mangel an Information ist, wie er es neulich im Web gelesen hat, sollte er doch glück- lich sein. Denn die Seite des Correio mit den Kontakt- anzeigen findet er im Internet nicht. Und wenn, würde Adriana sowieso nicht wieder mit demselben „Künstler- namen“ locken, auf den er letztes Jahr geflogen war und ihre Telefonnummer gewählt hatte. Sie könnte sich statt Aretuza inzwischen Délia, Ajahu oder sonst wie nennen. Auch ihre Handynummer wäre sicher anders. Also ver- wirft er die Idee, sich die Mittwochsausgaben des Correio nach Schöneberg schicken zu lassen und hängt während langer Warterei vor Bürgeramt- und Botschaftsschaltern lieber seine Fantasiegespinste von Verrat und Treuebruch in die Korridore und bringt sie mit leise gesprochenen, mantraartigen Sprüchen wie ‚Sie geht wieder auf den Strich‘ oder ‚Sie betrügt mich Tag und Nacht‘ nach und nach zum Kreiseln.
Eine Marotte? Für ihn, der die Geschichte mit den Blit- zen glaubt, ist es die wirksamste Methode, sich Unheil vom Leib zu halten.
‚Die Strategie der Hasenfüße‘ nennt er sie. Als gäbe es nur diese eine.

Um – Andrea & Wagner
Andrea Paliotti sieht man die italienischen Wur- zeln nicht an. Wie auch? Inspektor Paliotti hat weder eine Römernase noch die bewegliche
Grandezza eines, na, sagen wir, Florentiner Maßschnei- ders. Andreas Nase ist kurz und fleischig, seine kompakte Gestalt weist sowohl vorne als auch hinten bemerkens- werte Wölbungen auf, die er unter schlabberigen schwar- zen Jacketts versteckt, deren Ärmelenden ihm um die un- teren Fingerknöchel baumeln. Oft geschieht es deshalb, dass er beim Griff zum Telefon ein Cafezinho-Tässchen vom Schreibtisch wischt oder seine so großzügig um- säumte Hand an einem Schubladenschlüssel hängen bleibt und erst nach einem leinen- und nervenzerfetzenden Rat- schen auf dem Hörer landet. Es gibt Tage, an denen Paliotti beide Missgeschicke aufeinander folgend gelingen. Doch im gesamten Dezernat schlägt ihm längst niemand mehr vor, die Jackenärmel aufzukrempeln oder für fünf Reais kürzen zu lassen.
  Als er vor 27 Jahren Patrícia zuliebe den Sitz des Strei- fenwagens mit einem der unbequemen Stühle im Poly- technikum vertauscht hatte, war Paliotti schlanker. Aber schon damals nannte ihn seine Frau „Pastabärchen“, wenn ihre Hand auf seiner behaarten Brust und seinem nackten
Bauch den Spuren der Pastasciuttas und Stracciatellas nachschlich, mit denen Nonna Giovanna oder Mama Ma- telda in der Bixiga, dem Italiener-Viertel São Paulos, ihr Engelchen vollgestopft hatten. Und schon damals war seine Nase dabei rot angelaufen, was ihm auch heute noch passiert, wenn er verlegen wird, ins Grübeln kommt oder sich beispielsweise über Stilson, seinen Kollegen, ärgert. Dieser Makel haftet ihm an, allen Wandlungen zum Trotz, die mit Paliotti nach dem frühen Tod Patrícias vor sich gegangen waren.
  Er nahm zu, wurde wortkarg, miesepetrig und gab nur noch brummige Antworten. Seine Mutter, seine beiden Schwestern verfolgten ihn auf Schritt und Tritt mit ihrem Mitgefühl, und bald waren ihm ihre beseelten, feuchten Augenaufschläge genauso zuwider wie das aufmunternde Schultergeklopfe seines Schwagers in spe Vito. Nachbarn und Kollegen grüßten ihn distanzierter. Des Getuschels hinter seinem Rücken leid („… grade mal 30 und schon Witwer, der Arme“), brach er sein Studium ab, quälte sich durch Eignungsprüfungen bei der Polícia Civil in Brasilia, ließ sich die Haare und einen Schnurrbart wachsen, kehrte São Paulo noch vor der Hochzeit seiner Schwester Paola den Rücken und zog in die Hauptstadt. Dort schubste ihn das Schicksal, das nicht nur Schläge, sondern auch Knüffe austeilt, ausgerechnet in eine der Werkstätten des Dezer- nats für Autoraub und Autodiebstahl, ihn, der Autos seit dem Unfall mit Patrícia hasst und niemals mehr ein Lenk- rad zwischen die Hände nehmen will.
  Um diesem Vorsatz treu zu bleiben und des Drängelns in vollgestopfte Busse bald überdrüssig, investierte er sein erstes Gehalt in sein erstes Motorrad.
Heute donnert er als pünktlicher Ratenzahler und we- niger pünktlicher Inspektor mit der dritten Maschine, ei- ner Yamaha XVS 1100 A Drag Star Classic, in seinen auf- geblähten Schlabberjacketts gleich einer kugeligen Skulptur Henry Moores auf Rädern über die Große Achse, die sich wie der Bogen einer Riesenarmbrust durch Brasilias Mitte spannt.

Diese Räder stellt Paliotti eben auf dem weiten Park- gelände des Dezernats unter einen Kastanienbaum und beginnt auch an diesem Freitag den Arbeitstag später als sein Kollege. Denn als er das Büro betritt, in seinen XL- Drehsessel plumpst, in den er sich nach mehrjährigem knochentrockenem Abendstudium und schweißtreiben- den Prüfungen davor gerettet hat, von den mit jedem Kilo, das er zunahm, näher rückenden Wänden der Ab- schmiergruben zerdrückt zu werden, reckt Wagner Stilson Valdes aus einem Wirrwarr von Endlospapier kurz einen Daumen in die Luft.
  „Ist heute Montag oder spinn’ ich?“, raunzt Paliotti, den keine Statistik davon abbringt, die Frage nach typisch brasilianischen Wochenendaktivitäten mit Fußball, Fei- joada und Fahrzeugklau zu beantworten.
  „Datencheck!“, kommt die Antwort.
  „Mamma mia! Wer krallt sich nur die ganzen Karren?“
  „Um das herauszufinden, sind wir da, werter Kollege“, raschelt der Papierberg. Paliotti würde Wagner am liebsten eine scheuern. Er sinkt in seinen Sessel, stellt den Motor- radhelm daneben, holt einen Rasierspiegel aus der unteren Schreibtischschublade und betrachtet seine rote Nase.
  „Mamma mia!“, entfährt es ihm wieder. Doch diesmal kriegt es sein Kollege nicht mit, weil im selben Moment die Chefsekretärin ihren Kopf durch den Türspalt steckt und „Zum Chef!“ ins Zimmer ruft. Sie wartet, bis sich Stilson aus seiner Papierschlange herausgewuselt hat. Als er seine Jacke von der Stuhllehne zieht, sagt sie: „Du nicht! Nur Andi“ und verschwindet. Stilson setzt sich wortlos und beginnt, die perforierte Schlange in Stücke zu reiβen. Ein bisschen heftiger als nötig, findet Paliotti. Aber diese Edna ist schon ein Aas. Wen die auf dem Kieker hat, der hat nichts zu lachen. Doch Wagner hat sich das ja selber eingebrockt mit seiner Sudel-Baiana. Auch noch vor Kol- legen! Wurde Edna natürlich hinterbracht.
  Paliotti stemmt sich aus dem Sessel. Auf dem Weg zur Tür sagt er: „Ist sicher bloß wieder die Sache mit dem GOLF.“ Wagners weißer, penibel ausrasierter Nacken kommt ihm so zerbrechlich vor.

Wagner Stilson Valdes, der neben dem massiven Paliotti oft übersehen wird, da sein schmaler Rücken in den ge- stärkten weißen Hemden, die er ausschließlich trägt, leicht für einen weiteren jener Papierstapel gehalten werden kann, zwischen denen er hockt, Wagner Stilson Valdes
also, Mitte 30, aus Teresina, klein, schmächtig, straff an den Kopf geklebtes dunkles Haar, stets wie aus dem Ei gepellt im Anzug und Schlips, gelegentlich eine dicke Nerdbrille tragend und immer eine Krawattennadel in Form eines Palmenzweigs, raucht nicht, trinkt nicht, lacht selten, ist Vegetarier und Pfingstkirchler. Hat er eine Freun- din, einen Freund? Niemand weiß es. Meist bastelt er an einem EDV-Programm herum, einem Parser, wie er sich ausdrückt, mit dem er die in CaRo, der zentralen Daten- bank ‚Autoraub und -diebstahl‘ gespeicherten Informa- tionen analysieren will. Er ist überzeugt, in den Tausenden dort gesammelter Verlustanzeigen, Tatbeschreibungen, Polizei- und Vernehmungsprotokollen Analogien finden und Profile bilden zu können, mit denen er der Fahndung nach Serientätern endlich zu 2-stelligen Erfolgsquoten verhelfen wird. Anfangs begegnete Paliotti Wagners Pro- jekt CaRoPa skeptisch. Doch seit der Leiter des Rechen- zentrums dem Vorhaben unter der Bedingung, Stilson leiste weiterhin das geforderte Arbeitspensum, zugestimmt und ihm gleichzeitig die Teilnahme an Weiterbildungs- kursen in Sachen Informationsverarbeitung angeraten hatte, verbirgt Paliotti seine Zweifel. Er spielt den Uninte- ressierten. Dabei beschleicht ihn manchmal das Gefühl, wie bei einem seiner Motorradritte übers Land wachse eine Plakatwand auf ihn zu. „Altes Eisen!“ steht auf ihr geschrieben. Obwohl Wagner Stilson nicht viel spricht, zieht man ihn manchmal bei sperrigen Verhören hinzu, weil er den Gossenjargon perfekt beherrscht. Paliotti schließt daraus, dass Stilson sich aus bescheidenen Ver- hältnissen hochgearbeitet hat. Aus einer der vornehmen Wohngegenden am Lago Sul stammend, hätte er sich die „Sudel-Baiana“ wahrscheinlich verkniffen, und die in der Schlange vorm Kaffeeautomaten nicht anwesende Chef- sekretärin solchermaßen lauthals zu betiteln, zeugt kaum von glänzendem Internatsschliff.
  Allerdings verzeiht man Wagner den Ausrutscher eher, wenn man den Sticheleien und Anzüglichkeiten Ednas jemals ausgesetzt war. Edna sind fischige Männer ein Greuel. Stilson ist fischig, was für Edna alle Männer sind, die ihr nicht wenigstens hin und wieder ins großzügig geschnittene Dekolleté schielen. Also geriet ihr eines Tages Stilson mit seiner Krawatten- nadel, dem unschuldigen Palmenzweiglein, während eines ihrer einseitigen Büroplausche, bei denen sie die Hälfte ihrer Sitzfläche auf Paliottis Schreibtischplatte deponiert (was diesen später vor Stilson – und nicht vorm Kaffee- automaten – zitieren ließ, Edna käme bei ihrem Geplauder von Arschbacken auf Kuchenbacken) in die Schusslinie. Zunächst wurde ja das Palmenwedelchen bewundert, doch als Wagner zu einer Erklärung ansetzte, in der vom ‚Symbol des Friedens‘ die Rede war, drehte sich Edna mit der Frage zu Paliotti um, ob sich denn Palmenzweige nicht auch hervorragend als Staubwedel oder Klosettbürsten eigneten? Wagners fassungslosen Gesichtsausdruck quit- tierte sie mit einem lauten Kreischen, das Andrea peinlich war und ihn an seine Nase greifen ließ. Die Geschichte eskalierte später mit der Zimmerflucht Stilsons. Edna hatte ihn, den sie neuerdings ‚Blättchen‘ nennt – und nicht wie bisher, auf Stilsons Ordnungsfimmel anspielend, der ihn mehrmals täglich zwang, dem Kollegen Cafezinho-Pött- chen hinterherzuräumen, ‚Sammeltässchen‘ – Edna also hatte ihn gefragt, ob er denn wisse, dass früher Odalisken in türkischen Harems von ihren Wächtern mit Palmen- wedeln behutsam auf die kommenden Stunden der Liebe vorbereitet worden seien? Ob er sich nicht vorstellen könne, Ähnliches auch mal mit seiner Liebsten zu ver- suchen? Blättchen, seinem neuen Namen alle Ehre ma- chend, war wie ein vom Windstoß gepacktes Ipê-Blatt zur Tür hinausgewirbelt. „Gab’s überhaupt Palmen in der Türkei?“, hatte sich Paliotti gefragt, während Ednas grelle Lachkaskade über die Stufen des Treppenhauses dem zart- besaiteten Kollegen nachgekollert war. Dass sich Stilson später in der Kaffeewarteschlange mit seiner „Sudel- Baiana“ an ihr rächte, hat Edna ihm bis heute nicht ver- ziehen. Andere spendeten ihm klammheimlich Beifall.

Wagner zuckt zusammen. Er wendet sich Paliotti zu, der ein Päckchen Papier auf den Schreibtisch geklatscht hat:
  „Der GOLF?“, fragt er.
  „Der GOLF. Eine Superschlamperei!“
  „Von mir?“
  „Quatsch! Da drüben in Santa Maria! Dieser Schrott ist heute beim Chef gelandet. Kommt von der Droge. Das Neueste von unserm GOLF. Der Chef ist stinksauer.“
  Wagner nickt beruhigt und fragt: „Was sagt er denn?“
  „Megaschlamperei!“ Paliotti setzt sich in seinen Sessel, stöbert in den Papieren und macht sich Notizen. Wagner wartet, was den gebrummelten „Mamma mia“, „verdammter Mist“, „darf doch nicht wahr sein“ seines Kollegen folgen wird.
  Der steht auf, geht kopfschüttelnd mit einem Blatt Papier ans Fenster und guckt dann auf Wagner herunter:
  „Pass auf. Ich versuche mal, den ganzen Schlamassel zusammenzufassen. Vor ’ner reichlichen Woche, genau am 4. Oktober, schrieb die deutsche Botschaft an die ‚Oberste Leitung des Dezernats für Autoraub und -diebstahl von Brasilia‘, also an unseren Chef diesen Brief:

Sehr geehrter Herr Dr. Machado,
nach unseren Informationen wurde in der Nacht zum
10. September. d. J. vom Parkplatz des Bloco K der Superquadra 407, Asa Norte ein roter GOLF GTI 16V mit dem amtlichen Kennzeichen blablabla entwendet. Der deutsche Eigner, Herr Gunter K. aus Berlin, gab am darauffolgenden Tage bei der zuständigen Polizeidienststelle ordnungsgemäß eine entsprechende Diebstahlsanzeige auf (Akz. XXX). Bis zu seiner unauf- schiebbaren Rückreise nach Deutschland am 23. 9. erfuhr er nichts über den Verbleib seines Wagens.
Von Herrn K., der weder des Portugiesischen in ausrei- chendem Maße mächtig ist, noch mit den hiesigen Zuständigkeiten vertraut, wurden wir deshalb gebeten, uns mit folgender Frage an Sie zu wenden:
Ist es Ihren Dienststellen in den seit dem Diebstahl vergangenen 4 Wochen gelungen, etwas über den Verbleib des o. g. GOLF in Erfahrung zu bringen?
Sollte dies etwa der Fall sein, so bitten wir um eine entsprechende Nachricht.

Mit vorzüglicher Hochachtung
Dr. Lukas Mayerbeer
(Botschaftsrat Erster Klasse)

„Na, ist das nicht herzig?“, Stilson bleibt stumm, Paliotti wird lauter:
  „Dieser Erste-Klasse-Mayer kann sich seine Ironie in den Dingsda schieben. ‚Sollte dies etwa der Fall sein …‘ “
  „Nicht aufregen, werter Kollege!“
  Paliotti regt sich auf. Er malträtiert seine Nase, stampft an seinen Schreibtisch zurück, pfeffert das Botschafts- schreiben auf die Tischplatte und wühlt in den Fotokopien.
  „Das sag mal dem Chef. Was glaubst du, was ich mir anhören musste? Das alles wegen den Idioten in Santa Maria und den eingebildeten Drogenfatzken, die uns den ganzen Mist eingebrockt haben.“ Stilson versteht nicht und macht „Hmm?“
  „Pass auf. Ich erklär’s dir. Also, der Chef kriegt das Gesülze von diesem … äh … Mayerbeer, ist stocksauer und gibt dir den Auftrag rauszufinden, wo der GOLF abgeblieben ist. Du klemmst dich hinter deinen Computer und fragst CaRo. Nada! Du lässt nicht locker und probierst dein Glück bei der Delegacia an der W3, weil du ein kluges Kerlchen bist und weißt, dass die ja – wie schreibt der Botschaftspinsel? – die ‚zuständige Polizeidienststelle‘ für den Deutschen ist. Da erinnert sich tatsächlich jemand an den GOLF und an die Fundmeldung aus Santa Maria. Als du dort anrufst, erklären die sich nicht mehr für zuständig und verweisen dich an die Drogenfahndung, was du dann dem Chef berichtet hast.“

Von seinen Notizen liest Paliotti ab:
  „Nacht zum 10. 9., GOLF verschwindet vom Parkplatz des Bloco K und so weiter. Am folgenden Sonnabend macht der Alemão seine Anzeige. Im Fahndungscomputer wird der GOLF von den Kollegen an der W3, Asa Norte, eingetragen. Schon am nächsten Tag, also am Sonntag, findet sich der GOLF in Santa Maria unbeschädigt wieder ein und wird auf dem Parkplatz der dortigen Delegacia zwecks Spurensicherung abgestellt. Gleichzeitig folgt eine Meldung an die Delegacia W3 in Brasilia. Die nehmen daraufhin die Karre aus der Fahndung. Eine Streife soll den Deutschen am kommenden Morgen auffordern, sich seine Kiste in S. M. abzuholen. Soweit noch alles normal, oder?“
  „Spritzer“, sagt Wagner und steht auf.
  „Sieht so aus. Einen Tag später, also am Dienstag, ist der GOLF aber wieder weg! Einfach so vom Parkplatz der Delegacia in Santa Maria verschwunden. Fantastisch! Und das Schönste ist, den Typen dort fällt das nicht mal auf!“
  „Haben die aber nicht zugegeben“, sagt Stilson.
  „Brauchten se ja auch nicht. Erstens hat sich der Deutsche nie bei ihnen gemeldet, wie sie später versicherten. Zweitens tauchte der GOLF nämlich ganz schnell wieder auf: in der Nähe von Cocalzinho. Jedenfalls das, was von ihm übrig ist. Klebte an einem Strommast. ‚Der Lenker des Wagens hatte sich vom Unfallort trotz offensichtlich starker Verletzungen entfernt, auf welche massive Blutspuren im Volantbereich hindeuten, sowie die eingebeulte linke Wagentür samt der zersplitterten Seitenscheibe. Da sich in der gleichfalls zerstörten Füllung dieser Tür mehrere Päckchen Crack (Straßenkokain) fanden, wurde das Drogendezernat der Polícia Federal benachrichtigt.‘“
  „Den muss es ja ganz schön erwischt haben,“ sagt Stilson.
 „Was?“
  „Lässt seinen Stoff schießen …“
  „Ach so.“ Paliotti greift sich einige der über die Tischplatte verstreuten Kopien und legt sie zusammen. Stilson betrachtet sich Unfallfotos.
  „So, hier, alles Protokolle der Droge. Hat mir der Chef aufgedrückt.“ Andrea nimmt Stilson die Fotos aus der Hand.
  „Setz dich!“ Stilson zieht sich einen Stuhl an den Schreibtisch und hört sich das Folgende dem Inspektor gegenüber sitzend an.
  „Also, die Droge kommt und greift sich den Fall. Ermittelt über Kfz-Nummer Name und Adresse des Halters, der Deutsche wird befragt und erklärt den Wagen für gestohlen.“
  „Ein paar Tage später fährt er nach Deutschland zurück und erkundigt sich mal ganz nebenbei bei der deutschen Botschaft in Brasilia, wo sein zerdeppertes Auto geblieben sei?“
  „Mamma mia, Wagner! Denk doch mal mit! Stell’ dir vor, dein Fusca landet eines Tages irgendwo als Schrotthaufen im Straßengraben mit ’ner zerdepperten Tür, aus der pfundweise Crack rieselt. Du weißt doch, dass dann eine ganze Menge Fragen auf dich runterprasseln würden?“
  „Gegen den Halter eines zu kriminellen Handlungen benutzten Fahrzeuges ist so lange zu ermitteln, bis dessen Tatbeteiligung, -begünstigung oder -duldung zweifelsfrei ausgeschlossen werden können.“
  „Kluges Kind. Wetten, dass du dir dann auch vorstellen kannst, dass die Drogenfuzzis dem Deutschen aus ‚ermittlungstaktischem Interesse‘ keinen Furz vom kaputten GOLF erzählt haben. Die kloppten erstmal sein Alibi ab und frag- ten ihn, wo er seine Diebstahlsanzeige gemacht hat. Anschließend sind sie zur Delegacia an der W3 gerast und haben sich dort die Anzeige des Gringos geschnappt. Die lag da ja immer noch rum. Uns ham’se erst gar nischt gemeldet. Oder?“
  „Deshalb gibt’s ja keinen Eintrag in CaRo.“
  „Bei der Gelegenheit haben sie dann sehr belustigt er- fahren, dass der Wagen inzwischen in Santa Maria ‚sichergestellt‘ werden konnte, behielten aber ihr ‚besseres Wissen‘ für sich und gaben’s auch nicht an uns oder die Zentrale weiter.“
  „Ermittlungstaktisches Desinteresse“, sagt Stilson leise.
  „Nee! Aus Schadenfreude, wetten? Na, jedenfalls sind sie dann umgehend bei der Delegacia in S. M. aufgetaucht und haben sich dort den gesamten Papierkram in Sachen GOLF unter den Nagel gerissen. Die Typen da werden richtig froh gewesen sein, diese peinliche Geschichte auf diese Weise loszuwerden: ‚Polizei beklauen – kinderleicht!‘ wäre ja auch keine tolle Schlagzeile.“
  „Eins verstehe ich nicht. Warum ist denn der Deutsche nicht in Santa Maria aufgekreuzt? Und warum schreibt die Botschaft, dass der Deutsche bis heute nicht weiß, wo sein Wagen abgeblieben ist? Wenn die Drogenfahnder ihm nichts von dem Unfall erzählt haben, wie du sagst, muss er doch geglaubt haben, seinen GOLF in S. M. abholen zu können?“
  „Dafür gäb’s zwei Gründe: Entweder hat ihn niemand informiert oder er steckt in der ganzen Sache mit drin.“
  „Das hat doch die Drogenfahndung bestimmt gecheckt? Sonst hätte der doch nicht, warte mal“, Stilson greift sich den Botschaftsbrief, „10 Tage später ausreisen dürfen.“
  „Na ja, ich kann mir auch nicht vorstellen, dass der Deutsche ein paar Jungs anheuert, ihm die Karre für eine Spritztour zu klauen, sie anweist, danach in Santa Maria den GOLF so vor irgendeiner Haustür abzustellen, dass die Bewohner kaum noch auf die Straβe kommen und die Polizei rufen. Anschließend lässt er die Kiste zum zweiten Mal klauen, damit ja kein Verdacht auf ihn fällt, falls der Drogendeal schiefgeht.“
  „Später schaltet er dann noch die Botschaft ein …“
  „Klar, weil er wissen will, wo sein Rauschgift abgeblieben ist!“ Paliotti und Stilson sehen sich an. Paliotti lacht, Stilson versucht es.
  „Mal im Ernst“, sagt Paliotti, „das mit der Streife klär ich nächste Woche. Dann schreib ich meinen Bericht für den Chef, der wird diesem Botschaftsrat hoffentlich sein ironisches ‚sollte dies etwa‘ heimzahlen und die Sache ist gegessen.“ Paliotti kann ja nicht ahnen, was ihnen beiden noch blüht.

Stilson sitzt wieder vor seinem PC. Ein paar Maus- und Tastenklicks später liest er vom Bildschirm ab:
  „Mayerbeer, Maria-Magdalena. Diebstahl eines BMW X5, 12.12.2004.“
  „Und? Hat sie ihn wiedergekriegt?“, fragt Paliotti. Stilson guckt ihn an:
  „Was glaubst du?“

Dois – Aretuzas Verhör
Auf kaltem Herd wird keine Suppe warm!‘ hätte Oma Paliotti gesagt und ihrem Enkel übers zerzauste Haar gestrichen. Diesem ist nicht nur die
Frisur aus der Facon geraten, der Inspektor ist (darf man sagen: rundum?) fassungslos. Da taucht an diesem Samstagnachmittag ein Stilson auf, den man überhaupt nicht kennt. Da drückt man sich monatelang die Hintern im selben Büro platt und bleibt sich fremd. Da lernten ungebundene Naturen währenddessen leicht, zu Fuß von Rio Grande do Sul bis Roraíma, halb Brasilien kennen, während man selbst in all der Zeit dem einquartierten Kollegen kaum ein paar Schritte näherkam. So ruft man ihn „Wagner“ und „Stilson“, weil man bis heute nicht weiß, was ihm lieber ist. ‚Öde Gegend‘, hat man sich beschwichtigt. Nonnina also, wäre ihr Wagner Stilson Valdes je begegnet, hätte ähnlich mühelos, wie sie an den Fischständen der Bixiga zwischen den frischen Dourados den taufrischen fand, aus den unter ihrem Dutt sich drängenden Sentenzen diesen pragmatischen Suppenspruch gefischt (und mit ihm ins Schwarze getroffen, ist hinzuzufügen. Denn durfte man Stilson bis heute etwa nicht zur Sorte verschlossener Menschen zählen, denen selten ein Fünkchen seelischer Verbrennungsvorgänge nach außen dringt?). Doch Oma ist schon lange tot, sie kann ihrem Engelchen nicht helfen. Das muss nun die Scherben allein vom Boden klauben und Kaffeespritzer mit dem Jackenärmel trocknen, vor allem auf dem Protokoll, das Adriana unterschrieben hat, bevor Wagner sie mit dem Fusca zurück in ihre Kitchenette bringen durfte. Dem Inspektor bleibt es überlassen, mit einem Durcheinander von Papieren und Gefühlen klarzukommen. Den Seelenfrieden wiederherzustellen, das überlässt er später so bewährten Hausmitteln wie Dave-Brubeck-Jazz und Tresterschnaps. Falls diese Woche in einer Klosettkantate ausklingt – Paliotti fände es durchaus passend.

Montag
Dabei hatte sie für den Inspektor nicht anders begonnen als andere Wochen auch: mit einem Montag und der gewohnten Futterlieferung für die Speicher von CaRo, der Datenbank AUTODIEBSTAHL UND -RAUB, den Klageliedern verlustig gegangener Lieben, überwiegend vierrädriger. Ins nüchterne Raster der Erfassungsbögen übertragen, von Datentypistinnen in Dateien geklöppelt, bleibt ihnen allerdings kaum der kleinste sentimentale Triller. Wenn doch, so sorgte Stilson schon dafür, dass Fakten und nicht ‚redundanter Müll‘ die Massenspeicher des zentralen Rechners füllen. Paliottis wortkargem Kollegen obliegt die sogenannte Datenpflege. Er ist’s, der jeden Input kontrolliert, verifiziert, nicht selten korrigiert und ihn schlussendlich implantiert. Paliotti nennt ihn CaRos Futterknecht und gönnt ihm dieses Amt ganz ohne Neid. Den eigenen Beitrag zur Inneren Sicherheit leistet er vorzugsweise durch geduldiges Aktenstudium und weniger geduldiges Telefonieren (indes sich Stilson in das Monster eines Kopfhörers voller Jesusschluchzer verkriecht).
  Dazu gab ihm Paliotti heute reichlich Anlass. Bei der Delegacia an der W3 wunderte man sich schon über das Interesse an einem Gringo, das der Inspektor dadurch bekundete, jeden greifbaren Mitarbeiter der Dienststelle am Hörer zu verlangen. Endlich mit Erfolg. Doch, man könne sich an den Deutschen erinnern, der vor Wochen in Begleitung einer Mulata oder Negra einen Autodiebstahl gemeldet hatte. Ziemlich ungehalten übrigens. Welche Kollegen vom Streifendienst später losgeschickt worden waren, um dem Geschädigten die Nachricht von seinem in Santa Maria sichergestellten GOLF zu überbringen, sei auf die Schnelle nicht ermittelbar.

Dienstag
Den folgenden Tag verbrachte der Inspektor damit, die Protokolle der Drogenfahndung und der Kollegen in Santa Maria zusammenzufassen. „Stringent“ hatte der Chef verlangt. Paliotti tat’s, leise „Mamma mia“ stöhnend oder „Scheiß Word“, auf seinem Schnurrbart kauend, Kaffee schlürfend, Kaffeetassen mordend und sich die Nase reibend. Mit der Tipperei auf PC-Tastaturen hat es Paliotti nun mal nicht so. Freundlicherweise wies ihm Wagner am Dienstag kurz vor Feierabend nicht wie gewöhnlich den Rücken, sondern streckte die Hände hilfsbereit nach dem Stick mit dem endlich vollendeten Elaborat aus, um es in freiwilligen Überstunden an seinem PC in eine passable Form zu bringen. „Wetten, dass er dabei seine dicke Brille aufhat?“, fragte Paliotti ein unsichtbares Gegenüber, bevor er sich auf heimischen Sofakissen von den Strapazen des Schriftstellerns zu erholen begann.

Mittwoch
Am Mittwoch, Punkt 9 Uhr, überreichte Andrea mit zufriedenem Lächeln Edna den Bericht. Das fiel ihm aber schnell aus dem Gesicht, als er statt einem „Dankeschön“ zu hören bekam:
  „Na, Andi, fleißig gewesen? Hast doch nicht etwa deine langhalsige Liebste vernachlässigt?“
Zwei Stunden blieben ihm, sich über diesen Spruch zu ärgern und darüber, zum letzten Geburtstag eine Grappaflasche mit ins Büro gebracht zu haben. Dann verlangte der Chef nach ihm.

„Sie brauchen sich gar nicht erst zu setzen“, begrüßte ihn Dr. Machado. Paliotti hatte gewohnheitsmäßig den breiten Ledersessel vor dem von Edna „Monte Machado“ genannten Mahagoniklotz angesteuert, an dem der Chef seine umfangreiche Korrespondenz zwischen zwei Telefonapparaten und einem Blackberry mit einem vergoldeten Ku- gelschreiber zu erledigen pflegt.
  „Nehmen Sie das da gleich wieder mit zurück!“ Mit ‚das da‘ war der von Paliotti so mühsam zusammengebastelte und von Stilson, schon liebevoll zu nennend, in alle Himmelsrichtungen der portugiesisch-brasilianischen Sprachwelt zurechtgerückte und plastikverklammerte Bericht gemeint. „Zurück“ übersetzte sich Andrea unkomplizierter: dieser Scheiß-Deutsche!
 „Ich vermisse da“, der Chef wedelte mit den Blättern vor Paliottis Schlabberjackett, „ich vermisse da einen ganz fundamentalen Punkt.“
  Der Angefächelte schnappte nach den Papieren und befahl seiner rechten Augenbraue, den Bogen zweifelnden Erstauntseins zu bilden. Zwar ahnte Paliotti, was Senhor Machado vermisste. Doch gibt etwa in der Bixiga ein Obsthändler zu, vom Madenbefall seiner Pflaumen zu wissen?
  „Es muss schleunigst geklärt werden, ob dieser Deutsche darüber informiert war oder nicht, dass sein Wagen in Santa Maria zur Abholung bereitstand.“ Dem fügte der Chef leise hinzu: „Zumindest zeitweise“, um mit aufmunternder Lautstärke fortzufahren:
  „Also, dieser Punkt ist zu klären! Mein Gott, Paliotti, das kann doch nicht so schwer sein! Ich will doch denen in der deutschen Botschaft nicht auf die Nase binden, dass es bei uns ein Kinderspiel ist, Autos vor den Augen der Polizei zu klauen! Dazu muss ich aber unbedingt wissen, ob die von dem Schlammassel in Santa Maria durch den Deutschen Wind gekriegt haben könnten.“
  Paliotti blätterte in den Papieren nach der Kopie des Botschaftsschreibens.
  „Aber dieser Mayerbeer schreibt doch: ‚Bis zu seiner unaufschiebbaren Rückreise nach Deutschland erfuhr er nichts über den Verbleib seines Wagens‘.“
  „Na und? Muss das denn stimmen? Über meine Kontakte habe ich übrigens erfahren, dass dieser Mayerdings ein ganz intriganter Bursche sein soll, dem an der Botschaft jeder aus dem Weg geht. Dazu noch ein besess’ner Womanizer.“ Der Chef hüstelte. „Das behalten Sie aber für sich, Paliotti! Na, lassen wir das. Ich kann Ihnen hier auf die Schnelle jedenfalls nicht das Einmaleins der höheren Diplomatie vorbeten. Klemmen Sie sich lieber schleunigst hinter Ihr Telefon, treten Sie ruhig mal ein paar Schlafmützen auf die Zehen und sagen Sie Ihrem Stilson, er soll seinen Computer nicht nur zum Programmieren benutzen, sondern ausnahmsweise auch mal zum Recherchieren! Also beeilen Sie sich! Ich muss mich schließlich auch noch um den Mist in Santa Maria kümmern. Da könnten Sie mir doch wenigstens diesen Kinderkram vom Halse schaffen. Oder?“
  Während Paliotti zur Tür ging, stellte er sich fundamentale Punkte vor wie Eisenkugeln, die man Zirkuselefanten an die Füße kettet.
  „Paliotti?!“
  „??“
  „Haben Sie Schnupfen? Ihre Nase ist so rot.“

Am Nachmittag suchte Paliotti in den Protokollen die ehemalige Adresse des Deutschen und sagte zu Wagner:
  „Ich probiers mal beim Porteiro.“
  Stilson war verstimmt. Zwei Überstunden und kein Wort des Dankes! Weder von dem noch von diesem. Stattdessen eine sinnlose Ermahnung. Nicht eine der ihm zugänglichen Datenbanken würde derart schwerwiegenden Inputs Speicherplatz einräumen wie: ‚Streife ZYX wurde am Soundsovielten beauftragt, Senhor Alemão XYZ fol- gende Nachricht zuzustellen …‘
  „Ach, und vielen Dank übrigens für deine Hilfe! Ich zisch jetzt ab zum ASA Norte.“
  Stilson drehte sich um, guckte Paliotti über den Rand seiner Brille an und sagte:
  „Wenn eine da ist, frag die Porteira!“
  „Wen?“
  „Na, die Frau des Pförtners!“

Tiago, der Porteiro des Bloco K, fachte gerade das Holzkohlenfeuerchen in seinem Carrinho an, auf dem er wochentags pünktlich ab 6 Uhr abends an der nächsten Straßenecke Fleischspießchen brutzelt. Sein etwa 20-jähriger Sohn Samuel wischte ein paar Schritte daneben mit einem Lappen flüchtig über blecherne Klapptische und -stühle. Paliotti grüßte die beiden, nannte seinen Namen und erfuhr ihre. Ein ungleicheres Vater-Sohn-Gespann war ihm bisher nicht begegnet. Tiago, kleinwüchsig, mestizen-dunkel, quirlig und gutgelaunt hat einen hellhäutigen Schlacks als Sohn, auf dessen Gesicht der Überdruss des ewigen Tisch-und-Stuhl-Schleppens dick wie Abschminkcreme lag.

Dass der Porteiro sich zunächst dumm stellte, als er nach einem Deutschen gefragt wurde, der hier bis zum September gewohnt haben sollte, überraschte Paliotti nicht. Aber es ärgerte ihn. Bloß ja nichts wissen, das ahnungslose Lämmlein spielen oder den begriffsstutzigen Trottel – immer wieder begegnet dem Inspektor diese Attitüde, wenn er von Leuten etwas erfahren will. Auch wenn sie keinen Dreck am Stecken haben: stets das gleiche reflexartige Verhalten der Polizei oder sonstigen „Respektspersonen“ gegenüber, die hasenfüβige Vorsicht, sich ja nicht in irgendeine Geschichte hineinziehen zu lassen. Jedes Mal fuchst ihn diese „dämliche Duckmäuserei.“ Daran hatte auch Stilsons Vortrag über deren Wurzeln nie etwas ändern können, obwohl er doch so einprägsam kurz ausgefallen war: Er bestand aus einem einzigen Wort. „Sklavenmentalität“ hatte Wagner durch seine schmalen Lippen gepresst.

Der Porteiro konnte sich also nicht an einen Senhor Alemão erinnern, hier ziehe doch dauernd jemand ein und aus. Er guckte den Inspektor mit treuherzigen Äuglein an und Paliotti zählte, wie lange Tiago einem stählernen Polizistenblick standhält. Er kam bis 3, dann wendete sich der Feierabend-Churrasqueiro wieder seiner Holzkohle zu. Andrea stand ein bisschen einsam da und überlegte sich, ob es zweckvoll sei, auch den leicht apathisch vor sich hinwischenden Pförtnersohn zu befragen, als eine hagere Alte eine Schüssel auf dem Carrinho abstellte. Stil- sons Porteira?
  „Was is’n?“
  Tiago öffnete den Mund, aber Paliotti war schneller.
   „Ich bin Inspektor Paliotti. Ich habe ein paar Fragen zu einem Deutschen, der hier gewohnt hat. Ihr Mann …“
  Die Alte krähte: „Mein Mann? Um Gottes Willen! Der hier ist mein Sohn.“
   „Tschuldigung! Also Ihr Sohn kann sich nicht an den Deutschen erinnern.“
  „Hier wohn’ so ’ne Menge Gringos“, maulte Tiago.
  „Ein Graukopp?“, fragte die Alte. Paliotti nickte versuchsweise. Es existiert ja schließlich kein Fahndungsfoto.
  „Hier gab’s keinen mit …“, der Porteiro kam nicht weiter.
  „Ach klar“, wurde er angeraunzt, „das war doch der, der am Wochenende immer mit dieser Vagabunda Händchen haltend rumgezogen ist!“
  Tiago spielte weiter den Vergesslichen und erntete mütterlichen Tadel:
  „Du säufst dir noch mal das Gehirn aus der Birne!“
  „Was denn für ’ne Vagabunda?“
  „Na, die Schwarze, der du immer auf den Hintern geschielt hast!“
  „Aaach ja“, angesichts eines dermaßen bildhaften Denkanstoßes gab Tiago auf, „die Schwarze mit den Affenzöpfen.“
  „Rastafarizöpfe!“ Das kam von Samuel. Tiago und Paliotti drehten sich nach ihm um.
  „Kennst du die???“, fragten beide wie aus einem Mund.
  „Nee, nich richtig. Die hat nur öfter mal im Hof hier rumgesimst oder kam mit dem Gringo im Auto angezuckelt.“

So ging das Hin und Her noch eine Weile weiter. Obwohl sich nun auch der Porteiro erinnerte, erfuhr der Inspektor nicht, was er wissen wollte: Eine Polizeistreife hatten alle drei hier nie gesehen. Ob die Rastazöpfige mehr wusste? Der Kollege von der W3 sprach ja von einer Dunkelhäutigen, mit der der Deutsche bei ihnen aufgekreuzt war. Doch über die war dem Pförtnertrio keine nähere Information zu entlocken. ‚Das wars ja wohl‘, sagte sich Paliotti. ‚Jetzt einen starken Abgang hinlegen und den Leuten noch ein bisschen Druck machen. Wetten, dass die mehr wissen als sie erzählen!‘
  „Ja, wenn’s so ist, liebe Leute“, bereitete Paliotti seinen Abflug vor, „wenn ich in dieser Sache nicht weiterkomme, muss ich den Fall abgeben. Nach oben, versteht sich. Aber dann“, der Inspektor machte eine, wie er hoffte, beeindruckende Pause, „ja, dann stoßen hier ganz andere Geier auf euch nieder!“ Abschließend versuchte er, nacheinander drei strenge Blicke in drei Augenpaaren unterzubringen und schritt auf sein Motorrad zu.
  „Senhor Inspetor!“ Stilsons Porteira kam ihm nachgeschlurft. „Senhor Inspetor! Mir is noch was eingefallen.“
  „Was denn?“
  „Na, die mit den Affenzöpfen, die hat mal was bei mir abgegeben.“
  „Was denn?“
  „’n Plastikbeutel voller Fummel.“
  „Ja, und?“
  „Sollt’ ich dem Deutschen geben. Die war’n grad über Kreuz.“
  „Hatten sich gestritten?“
  „Darauf könn’se wetten!“
  „Hm.“
  „Von Adriane oder Adriana, hat sie gesagt.“

Wieder im Büro, ging Paliotti zu Stilsons PC und loggte sich ein. Die stotternden Neonröhren an der Decke folterten ihn, seine Schreibtischlampe war kaputt. Er knipste die Zimmerbeleuchtung aus, presste sich in Wagners Drehstuhl, packte die Füße auf einen Papierstapel und wartete auf die Fische. Hätte sich sein Kollege statt des Aquariums einen Screensaver installiert, der pausbäckige Nackedeis mit goldenen Lyren auf rosa Wolkenkissen über den Bildschirm schweben lässt, wäre Paliotti nach Hause gefahren. Doch den gibt’s wohl noch nicht. Vielleicht strickt ihn sich Wagner ja eines Tages selbst. Er rennt doch jeden Mittwochabend in seine Computerkurse.
  Plötzlich tauchten sie auf, diese mit Flossen und Schwanz wackelnden kolorierten Pixelkekse, stur ihre Bahnen zwischen den Rändern des Bildschirms, aus denen sie kommen, in die sie verschwinden, abfahrend. Und als Andrea ihnen Namen gegeben hatte – er nannte den blauen ‚Montag‘, den grünen ‚Dienstag‘ und so fort bis zum grauen ‚Sonntag‘ – sah er mit bitterer Befriedigung die Tage und Wochen des eigenen donnernden Lebens an sich vorbeiziehen. Andrea war niedergeschlagen. Er steckte in der GOLF-Geschichte fest. Der Chef drängelt, aber die Streife ist nicht auszumachen. Der Besuch beim Porteiro hatte ihm nichts weiter eingebracht als den Vornamen einer dunkelhäutigen Frau mit Rastazöpfen, die an Wochenenden mit einem ca. 30 Jahre älteren Ausländer spazieren gegangen war. Händchen haltend! Na, wenn schon. Muss sie deshalb wissen, warum der nicht nach S. M. gefahren ist? Man sollte die Dame mal fragen. Ein Klacks, sie aus schätzungsweise hunderttausend kaffeebraunen Adrianas oder Adrianes im gesamten Distrikt rauszupicken!

Die Tür wurde schwungvoll geöffnet, ihr Riffelglas schepperte, Paliotti erschrak.
  „Ach du bist’s, Andi!“, sagte Edna, knipste das Deckenlicht wieder an und setzte sich auf ihren Stammplatz.
  „Sah was flimmern, dachte, Blättchen macht ’ne Schummerstunde. Wär’ doch mal was Neues, oder?“
  Andrea zwinkerte Ednas lange Beine an. Sie legte ihr Handtäschchen aufs Knie.
  „Suchst du ’ne Freundin im Internet?“
  „Klar, eine mit ganz langen Flossen“ wollte Paliotti antworten, doch gedämpfte Marimbaklänge fielen ihm ins Wort. Edna kramte ihr Handy aus dem Täschchen und sprudelte nach einem schnellen Blick darauf los:
  „Oi, Schatzi! Geht’s dir gut? – Wo bist du? – Wann kommst du? – Wirklich? – Ist ja fantastisch! – Freu mich riesig! – Ja, ja! – Wann? – Wo? – Klar, ich fliege! – Mein Schätzchen! – Bis gleich! – Küsse, Küsse, Tschau, Tschaui!“ Sie sprang vom Tisch, knutschte kurz ihr Handy und lachte Paliotti an. Ihr Gesicht glänzte vor Freude wie Honig auf einem Frühstücksbrötchen in der Morgensonne. (Draußen war’s zwar stockdunkel, aber Baianas gelingt so was.) Drei lange Schritte zur Tür, ein „Tschüssi“ für den Inspektor und Edna verschwand zu ihrem dänischen Co-piloten.

Paliotti loggte sich aus und schaltete den Rechner ab. An seinem Schreibtisch, an dem es noch herb-süβlich nach Limonen roch, stöberte er in Papieren und krakelte etwas auf seinen Terminkalender. Dabei brummelte er:
   „Danke, Jubel-Baiana!“, schnappte sich seinen Helm und verlieβ das Büro. Besser gelaunt nun wieder, schien es, wenn auch nicht annähernd so gut, wie vor ihm die strahlende Edna. Er hat ja keinen, auf den er sich freuen könnte. Es sei denn Stilson. Den wird er morgen brauchen.

Donnerstag
Wagners Erstaunen, seinen Kollegen am folgenden Morgen bereits um 8 Uhr 30 hinter dem Schreibtisch hocken zu sehen, äußerte sich in einem kurzen Blinzeln.
  „Hat jemand die Staatskarosse geklaut?“, fragte er.
 „Nein, nein. Ganz was anderes. Ich such ’ne Frau!“
  „Was?“
  „Ja, ’ne dunkelhäutige.“
  Stilson sagte nichts. Er setzte sich vor seinen PC, schaltete ihn ein.
  „Also, was is? Kannst du mir helfen?“
  „Moment.“ Wagner klapperte mit den Tasten. Nach einer Weile drehte er sich zu Paliotti um:
  „Du willst im Internet surfen? Hat’s gestern Abend nicht gefunzt?“
  Andrea wollte nicht fragen, ob ihn die Pixelkekse bei Stilson verpetzt hätten. Er war zu ungeduldig und brachte sich damit, ohne es zu wissen, um ein Kurzreferat über Zugriffsprotokollierung auf einem PC. Stattdessen versuchte er mit schwingenden Jackenärmeln, Wagner für die gestrige Szene am Holzkohlefeuerchen zu interessieren. Als die Porteira auftrat, nahm Wagner die Hände von der Tastatur und hörte zu.
  „Jetzt habe ich eine Idee, wie wir diese Adriane auftreiben!“, schloss Paliotti seinen Bericht, ‚wir‘ statt ‚ich‘ sagend und nichts darüber, dass Edna ihm gestern das Licht aufgesteckt hatte, mit dem sich die Nadel im Heuhaufen, falsch, im Nadelhaufen, finden ließe. Vielleicht! Die Chefsekretärin hatte ihm gestern ein Kunststück vorgeführt, das täglich rund um die Uhr auf dem gesamten Erdball bewältigt wird und damit gar keins mehr ist: Edna hatte Küsse in Elektrosmog verwandelt. Warum sollte das dem Alemão und seiner simsenden Liebsten nicht auch gelungen sein? Im Apartamento des Deutschen gab es laut Diebstahlsanzeige Telefon. Könnte man feststellen, welche Nummern von dem Gringo am häufigsten gewählt worden waren, würde sich unter einer von diesen Adriane melden. Dessen war sich Paliotti so sicher, dass er Stilson gar nicht erst mit seinem „Wetten, dass …“ kam. Wenn außer Brokern, Adoleszenten und vereinsamten Müttern jemand die Telefongesellschaften füttert, dann getrennte Pärchen. Als er noch Streife fuhr und Patricia hatte, war das jedenfalls so gewesen. Und alles konnte doch nicht anders geworden sein, oder?
  Stilson riss Paliottis Redeschwall nicht mit.
  „Und wenn du diese ‚Vagabunda‘ hast, was machst du dann?“
  „Dann quetschen wir sie aus! Mamma mia! Die muss einfach wissen, ob der Deutsche …“
  „Und wenn sie lügt?“
  „Dann machen wir ihr eben so lange Dampf, bis ihr das Lügen vergeht.“
  „Dampf? Womit?“
  Da fände sich schon was, meinte Paliotti, doch Wagner blieb stur: Die Streifenpolizisten würden sich bestimmt noch melden und nach irgendeiner Puta wer weiß wo rumzubuddeln, das wäre nicht sein Strand, dafür gäb’s schließlich definierte Zuständigkeiten.
  Paliotti holte tief Luft. Der abschätzige Blick einer Porteira, ein rasch geklebtes Etikett – schon ist diese Adriane bei Wagner in ein bestimmtes Fach gerutscht. Ihm reichen ‚Affenzöpfe‘, dunkle Haut und ein ältlicher Galan, sie auf den Strich zu expedieren. Und dass von dort ihm nichts auf die Festplatte kommt, nicht mal ins Unter-Unterverzeichnis c:\Eigene Dateien\Abfall\Igitt, das weiβ jeder, der gehört hat, wie er ‚Puta‘ ausspricht. Da sollte man den lieben Stilson doch mal fragen, wie’s denn ums ansehnliche Vermögen seiner Pfingstkirche bestellt wäre, striche diese von ihrer weiblichen Klientel tatsächlich nur den Zehnten davon ein, was sich mit Putzen, Waschen, Alten- oder Kinderaufsicht zusammenkratzen lässt. Ob nicht auch mancher Real, so nebenbei verdient in Sünde (wie Stilson wahrscheinlich dozieren würde), aus junger Faxineira- oder Empregada-Hand die Summe der Kollekten rundet? Selbstredend wollte Paliotti diese Frage nicht stellen: Ein Tritt gegen die Pfeiler von Wagners ehrenhaftem Glaubenstempel – und er hätte seine Hoffnung, das sittenstrenge Palmenzweiglein Stilson am Ende doch noch in seine verruchten Pläne einzuflechten, knicken können.

Freitag
Blättchen bockte auch am nächsten Morgen. Sorgt sich wohl um seine weißen Händchen, mutmaβte Paliotti. Könnt’ ihn ja ritzen diese Schwarze Nadel! So schieb ihm doch als Lolli, der den Trotzkopf aus der Ecke lockt, sein PC-Mäuschen in die Finger! Das fasst er ja am liebsten und ganz unbedenklich an. Das Mädchen, ob nun Nutte oder nicht, erstmal zu vergessen, schlug er Stilson deshalb vor und fragte ihn, ob’s „technisch“ machbar sei, den gesuchten Anschluss aus den Telefonaten des Deutschen rauszufiltern.
  Wagner hörte auf zu tippen. Er lehnte sich zurück. Ein Bügelende seiner Brille zwischen den Zähnen starrte er sekundenlang ins Leere. Danach quietschendes Drehgestühl: Stilson wendete sich Paliotti zu.
  „Machbar!“, sagte er, schob die Brille auf die Nase und klopfte sich mit dem Zeigefinger auf die Lippen. Was das heißen sollte, war Paliotti klar: ‚Du bist durchschaut, werter Kollege!‘ Doch er blieb ungerührt, keine rote Nasenspitze musste er verbergen. Zu groß war die Erleichterung darüber, Stilson samt dessen Fähigkeiten und Kontakten, wenn schon nicht auf die eigene Seite, so doch auf jenen Strand gezogen zu haben, an dem Wagner nun mal so gern buddelt, dass ihn mitunter kaum noch interessiert, wonach er gräbt. Die Schaufelei als solche fasziniert ihn. Paliotti nannte gallig das, was Wagners verkniffene Lippen entspannt hatte, den süßen Vorgeschmack des Fachidioten davon, es der Welt mal wieder gezeigt zu haben! Natürlich behielt er diese Ketzerei für sich, klopfte aber Stilson auch nicht anerkennend auf die Schulter, als der ihm am späten Mittag wie eine verheißungsvoll schimmernde Muschel eine Mobilfunknummer auf den Schreibtisch packte, die er mit Bestimmtheit der ‚gesuchten Person‘ zuordnete. Wagner konnte das begründen; zu detailliert für Paliotti, der am liebsten gleich den Hörer in die Hand genommen hätte. Doch er hörte Wagner zu. Anfängliche Trommelwirbel auf der Armlehne schliefen ein. Hat Stilson jemals ähnlich gestelzte Sätze gedrechselt? Nicht einmal heute Vormittag während seines Telefonats mit Senhor Hildo, einem Mitarbeiter der Brasil Telecom, war Wagner von seiner üblichen, wie unters Hackmesser geratenen Syntax abgewichen (Stilson trifft Hildo regelmäßig bei seinem Weiterbildungskurs und richtet Paliotti gelegentlich Grüße von ihm aus, die dankbarer Erinnerung an einen Inspektor entspringen, dessen sachdienlicher Hinweis beim Import eines Wagens einst die Zollschranke merklich gelupft hatte). Jetzt aber spannte Wagner wahre Satzgirlanden zwischen sich und den staunenden Paliotti, in die er als blitzende Funken Jargonschnipsel flocht, die zur Erleuchtung Paliottis allerdings nur insofern beitrugen, als dass diesem sein Kollege in einem unbekannten Licht erschien. Entzippen, sagte er beispielsweise, entkrypten oder selektionieren, als er beschrieb, wie das von Senhor Hildo zwar nicht legal, dafür aber umgehend per E-Mail-Anhang gelieferte Datenmaterial – 6 detaillierte Monatsabrechnungen vom Anschluss des Deutschen – hatte behandelt sein wollen, um sich der – von Stilson weiterhin nicht Adriane genannten – Person fernmündlich nähern zu können. Eigentlich sei der gröβte Teil der Arbeit überflüssig gewesen, meinte er. Denn schon als die rund 600 Gespräche, die dem Alemão im Analysezeitraum von der Telecom berechnet worden waren, nach Nummern sortiert in einer Excel-Datei standen, hatte sich dieser Anschluss – Wagner tippte auf den Zettel vor Paliotti – eindeutig als Modalwert und damit höchstwahrscheinlich als der gesuchte herauskristallisiert. Doch er habe sichergehen wollen und deshalb die am häufigsten gewählten Nummern genauer abgeklopft. Das wäre ja auch schon deshalb nötig gewesen, weil persistentes Telefonieren allein kein hinreichendes Kriterium für sexuelle Verstrickungen sei. Weitere Variablen wie Datum, Uhrzeit und Dauer der Gespräche habe er demnach betrachten müssen, breitete Computergrafiken vor Paliotti aus, dessen Aufmerksamkeit auf ein Diagramm lenkend, das über der Zeitachse die Länge der mit der favorisierten Nummer geführten Gespräche als tiefrote Säulen anzeigte. Weil man mit niemandem, kommentierte Wagner, zur selben Zeit telefonisch verkehre, mit dem man es gerade auf direktere Art mache, müsse logischerweise dieser Anschluss, da er sich durch periodisch wiederkehrende weekend gaps in seinem Balkendiagramm signifikant von den übrigen meistfrequentierten abhob, jener Vagabunda gehören. Die durchschnittliche Dauer der Telefonate (23 Minuten) und die späte Stunde, zu der sie meist stattgefunden hatten (nach 22 Uhr), unterstützten die Validität seiner Analyse ebenso wie die Tatsache, dass überwiegend mittwochs und donnerstags am längsten parliert worden war, was dem Diagramm zu seinen charak- teristischen – wie er’s scherzhaft nenne – wöchentlichen Sehnsuchtsgipfeln verholfen habe. Damit kappte Stilson seine Satzgirlanden und setzte sich wieder.
  In der eintretenden Stille kam es Paliotti vor, als schwebten Wortgebilde wie ‚fernmündlich nähern‘, ‚sexuelle Verstrickungen‘ und ‚wöchentliche Sehnsuchtsgipfel‘ noch unter der Zimmerdecke. Er fragte sich, ob sie einer ihm bisher verborgen gebliebenen poetischen Ader Wagners entsprungen seien oder ob sein Kollege neben EDV-Kursen klammheimlich weitere Lehrgänge besuchte mit so schönen Titeln wie „In 80 Tagen zum Roman“ oder „Vom Polizist zum Publizist“. Näher lag jedoch die Vermutung, dass Wagners regelmäβiger Kirchgang und die damit verbundene pastorale Beschallung Früchte trugen oder we- nigstens die ersten Blüten hervorbrachten – Stilblüten.
  Paliotti rief sich zur Ordnung. In letzter Zeit fielen seine Kommentare oft sarkastisch aus. Ob er’s an der Galle hatte? Oder wurde er alt? Infrage kam beides. Da er Edna den Spitzenrang unter den Lästermäulern des Dezernats nicht ablaufen wollte, zog er neuerdings, falls ihm eine boshafte Bemerkung auf der Zunge lag, die borstige Kante des Schnurrbarts zwischen die Zähne, wölbte die Unterlippe vor, bis sie – ein fleischiges Siegel – seinen Mund verschloss. Genau gesagt, zuweilen. Gesprächspartner starrten oft gebannt auf mümmelnde Inspektorenkiefer, zwischen denen – was sie ja nicht wissen konnten – Giftiges zu schlucken war, bevor Paliotti seine Zähne endlich auseinanderbrachte.
 
  „Na los, rufen wir sie an!“
  „Langsam, werter Kollege!“
  „Wieso?“
  „Die Sache hat einen Haken.“
  Was is denn nu kaputt? Legt sich Stilson schon wieder quer? Dieser störrische Ziegenbock. Erst spielt er nicht mit, hat tausend Einwände, beschafft sich später aber ruck, zuck die Daten, findet – wie hatte er gesagt? – „mit Bestimmtheit“ die Nummer der „gesuchten Person“, schwafelt hochtrabendes Zeugs und zerrt ihn durch die Balken Dutzender Excel-Diagramme wie einst Nonno auf ihrer einzigen gemeinsamen Italienreise durch die Säulen des Forum Romanum. Und nun? Noch immer kein Ende der Vorlesung? Er hatte doch, was er wollte, hatte doch Adrianes Nummer. Mehr aber auch nicht, und das sei eben der Haken an der Sache, sagte Stilson, eine ladungsfähige Anschrift fehle. Die könne ihnen Senhor Hildo nur auf richterliche Anordnung beschaffen, falls das betreffende Mobiltelefon überhaupt bei der Telecom angemeldet sei und nicht bei einem anderen Netzbetreiber.
  „Wir wollen die Dame ja nicht schriftlich zum Geburtstag einladen! Die soll uns nur ein paar Fragen beantworten. Mehr nicht. Das geht ja wohl per Telefon!“      Paliotti griff zum Apparat.
  „Vielleicht auch nicht!“, sagte Stilson. Andrea knallte den Hörer aufs Gehäuse zurück:
  „Wieso denn nicht, zum Kuckuck noch mal!“
  Wenn es unter roter Nase eben noch mümmelte, so mampfte es dort inzwischen. Da braute sich etwas zusammen. Die Zeichen standen auf Sturm, Wagner schien sie zu kennen, denn er nutzte die Sekunden, die ihn vom nahenden Unwetter trennten und brachte sich mit einem Satz in Sicherheit. Als Paliotti sein durchgekautes Barthaar glatt- und trockenstrich, sich im Sessel aufrichtete, schnaufend doppelt so viel Luft einsog wie nötig gewesen wäre, ‚Blättchen‘ durchs Fenster zu pusten, wurde er gefragt, ob sich denn der werte Kollege mit Piranhas auskenne?
  Mit der Eleganz einer angestochenen Luftmatratze sackte Paliotti in den Sessel zurück. Doch was dabei seinem aufgeblähten Brustkorb entwich, war nicht mehr als ein lang gezogenes „Hää?“, sodass Wagner sich anschickte, dem Inspektor über eine sprachliche Brache hinwegzuhelfen (als könnte einem mit italienischen Kosewörtern in der Bixiga gepuderten Hosenmatz wie Paliotti diese scharfzahnige Metapher, mit der hierzulande – bleiben wir höflich – zupackende Frauen geschmückt und nicht weniger respektiert werden als die genannten Sägesalmler, niemals begegnet sein).
  „Ja doch, na klar!“, wurde Wagner unterbrochen. Meine Güte, wie oft hatten ihm die Streifenkollegen früher in São Paulo in seine dienstfreien Tage nachgerufen: „Mach’s gut, Mann! Lass dich nicht von Piranhas beißen!“ Sollte er das Stilson jetzt verklickern? Er hatte keine Lust, fühlte sich erschöpft, Wagner ging ihm auf die Nerven, kreischende Vögel vorm Fenster, schlagende Türen, Telefongeklingel, Schritte im Korridor, Tassenklappern, Lachen, Rufen, Sprechen, alles ging ihm auf den Senkel, geklaute Autos sowieso und ganz besonders der rote GOLF vom Asa Norte. In besserer Verfassung hätte er Wagners nun folgenden Vorschlag, den beabsichtigten Anruf erst einmal zu simulieren, nicht schroff zurückgewiesen, wie er das jetzt tat; hätte womöglich mitgespielt und die Komik der Szene zweier sich ihre linken Fäuste ans Ohr haltender, „Hallo!“, „Wer spricht?“ über Aktenstapel hinweg zurufender Polizeibediensteter trotz der Gefahr genossen, dass Edna ausgerechnet in dem Moment ihren Kopf durch den Türspalt stecken könnte, in dem Paliotti seinen Zimmerkollegen ansäuselte: ‚Spreche ich mit Adriana?‘
  „Affentheater!“, moserte Paliotti.
  „Gar nicht. Du rufst mich an. Ich bin die Dingsda.“
  Ausgerechnet Blättchen wollte ihm beibringen, wie man Piranhas an die Angel kriegt? Lächerlich!
  „Diese Dingsda heiβt Adriane oder Adriana und die ruf ich jetzt an, nich dich.“
  „Aber diese Puta meldet sich todsicher nicht mit ihrem richtigen Namen!“
  „Wer sagt dir das eigentlich?“
  „Lies die Inserate. Samila, Bruna, Yaumi … alles Fake!“
  „Das mein ich nicht.“
  „Was denn?“
  „Wer sagt dir, dass diese Adriane eine Nutte ist und nicht eine kreuzbrave Maniküre, zum Beispiel?“
  „Die Logik.“
  „Die Logik einer Porteira?“ Stilson stand auf.
  „Mensch, Wagner! Tut mir leid. War nicht so gemeint.“ Doch Blättchen schwieg, griff nach seinem Jackett und Paliotti war allein.

Er öffnete das Fenster und hielt sein Gesicht in die Sonne. Versteckt im Geäst der Kastanie, unter der die Yamaha stand, warf ihm ein Bem-te-vi sein „Hab’ dich ertappt! Hab’ dich ertappt!“ an den Kopf.
  „Ich dich auch!“, fauchte Paliotti zurück, obwohl das gar nicht stimmte.
  Wieder am Schreibtisch, kritzelte er unter Adrianes Handynummer ‚logisch?‘. Er starrte das Wort an, strich es durch, schrieb ‚möglich!‘ darunter. Na gut, mit der Maniküre lag er daneben. Das sah er ein. In Schönheitssalons herrscht an Wochenenden Hochbetrieb. Wenn sie dort arbeitete, hätte sie sonnabends andere Hände zu halten als die ihres Gringos. Geht sie eben putzen oder bastelt Papierblumen! Ihm war doch egal, wie sie sich die Mäuse für ihr Handy und ihre Rastazöpfe besorgt. Er wollte ihr doch nur ein, zwei kurze Fragen stellen. Doch Stilson macht einen Riesenzirkus wegen eines simplen Anrufs! Ob er sich doch nicht so sicher ist mit seiner „selektionierten“ Nummer? Oder spielt er sich nur auf?
  „Es reicht, Herr Inspektor!“, murmelte Paliotti. Erst jagte er Blättchen mit seiner vorlauten Bemerkung aus dem Zimmer und nun warf er ihm auch noch wenig freundliche Unterstellungen nach. Auf die Bedenken Stilsons war er überhaupt nicht eingegangen. Eine feine Art, Wagner für die Buddelei am PC zu danken. Begräbt Stilson nun den „werten“ Kollegen? Befördert ihn zum Ignoranten vom Dienst?
  Die Grübelei brachte ihn Adriane keinen Schritt näher und was auch immer Wagner schwarz an die Wand malte (dass sie am Telefon kaum zu packen sei, ja, sich in Luft auflösen würde, wenn sie erführe, dass die Polizei sie sprechen will), konnte ihn nicht dazu bringen, ihr die Anschrift abzuluchsen, indem er sich als Freund des Gringos ausgab. Wenn Stilson sie mit dem bisschen, was man von ihr wusste, zu einer Prostituierten stempelte, so fand er das gemein genug. Da noch eins draufzusatteln – das wiederum war nicht Paliottis Strand. Er packte den Hörer, bereit, sich einen Rüffel vom Chef einzuhandeln, falls das Gespräch schiefging und wählte. Nach der vierten Ziffer vertippte er sich. Sein Magen knurrte laut. Die Pixelfische auf Stilsons Monitor streifte ein verstohlener Blick, der Hörer wurde zurückgelegt, ein Anruf verschoben.

Um eine Fleischpastete schwerer ließ sich Paliotti nach dem Mittagessen in den Sessel fallen. Stilsons PC lief nicht mehr, sein Arbeitsplatz glänzte aufgeräumt wie für den Urlaub, keine Spur von Tabellen oder Diagrammen. Blättchen war demnach rasch noch mal vorbeigeweht, um den Fall Adriane zu den Akten zu legen, und zwar gründlich. Sogar der Zettel mit ihrer Nummer war verschwunden. Der Inspektor starrte auf die Schreibunterlage. Machte Kaffee solche Flecken? Er sah auf die Hände in seinem Schoβ. Die rührten sich nicht, ballten sich nicht zu Fäusten, klatschten auf keine Armlehne. Die wussten eher als Paliotti: Das Buddeln nach der schwarzen Nadel war die Schnapsidee des Jahres. Er sollte sich ohne großes Trara schleunigst von ihr trennen, die Karre steckte nach Wag- ners Ausstieg sowieso im Dreck und je eher man die weiβe Flagge hisst, desto kürzer ist bekanntlich der Beschuss. Kugelte er eine weitere Woche wie ein brasilianischer Vetter Philip Marlowes durch Superquadras, gelang ihm nichts anderes, als einige ums Holzkohlefeuerchen hockende Hasenfüβe aufzuscheuchen, würde ihn Dr. Machado in Grund und Boden stampfen. Schenkte er ihm gleich reinen Wein ein und gab seinen Misserfolg zu, zöge vermutlich nur ein mittelschweres Gewitter über den „Monte Machado“. Schlieβlich konnte ihm der Chef nicht die Schuld dafür in die Schuhe schieben, dass man verschlafenen Polizisten vor ihren Wachen Autos klaut und Streifenbesatzungen sich in Luft auflösen. Was aber diesen impertinenten Botschaftsrat anging, diesen „Sollte-das-etwa-der-Fall-sein-Mayerbeer“, dem wünschte er die umgehende Versetzung an den Polar- kreis. Möge man ihm dort den Schlitten klauen! Samt Hunden!

Die Sache war gelaufen, der Elefant Paliotti war die Eisenkugel nun hoffentlich los. Das hatte Stilson im Alleingang geschafft. Er konnte ihm nicht böse sein. Im Gegenteil. Sich vorzustellen, wie Wagner als Handynummern stibitzender Racheengel mit riesengroβen Kopfhörern bestückt lautlos durchs Zimmer schwebt – das hebt die Stimmung ungemein. Nur schade, dass man diese Adriane nun nicht kennenlernte. Wo sie doch Tiago, den Porteiro, so beeindruckt hatte. Ob ihr das auch bei ihm gelungen wäre? Oder bei Wagner, dem Fischigen? Quatsch. Der ist doch, wie es Edna ausdrückt, aller Weiblichkeit abhold. Der liebte auβer Bits und Bügelfix nur Bibelsprüche. Von klitzekleinen Fund- unterschlagungen einmal abgesehen.
  Andrea lächelte dünn, schob den Sessel zurück und legte die Beine auf den Tisch. Als ihn die Schleier des Büroschlafs streiften, war alle Schwere von ihm abgefallen und er schwamm davon.

In einem prallen Autoschlauch hängend, trieb Paliotti durch die kaum bewegten Wasser der Schildkrötenbucht. Es war wie früher während der Sommerferien. Die Familie stand am Strand von Búzios, winkend und rufend. Sie machte sich Sorgen um ihn. Auβer der zeternden Paola. Die riss ihrer älteren Schwester Laura irgendetwas aus der Hand, „meine, meine, meine …“ kreischend. Es war wirklich alles genau so wie einst am Meer. Bis auf den roten GOLF zwischen den Hügeln, in dem Wagner saß und an einem Lolli lutschte.

Das Telefon klingelte. Andrea stemmte sich mühsam aus dem Autoschlauch. Edna holte ihn aus Búzios zurück. Wann der Bericht fertig wäre, ließ der Chef fragen.
  „Hiijkrööbuuh …“, gähnte Paliotti.
  „Bitte, was?“
  „Schildkrötenbucht.“
 „Kiffst du, Andi? “
  „Kennst du die?“
  „Wen?“
  „Die Schildkrötenbucht.“
  „Lass den Quatsch! Der Chef …“
  „Also?“
  „Meine Güte, Andi! Na klar kenn’ ich die. Ich komm’ doch fast jeden Tag in euer verrümpeltes Büro.“
  Er versuchte erst gar nicht, schlagfertig zu sein, hustete ein mattes Haha in den Hörer und bat Edna, ihrem Chef auszurichten, dass es in der GOLF-Sache nichts Neues gäbe.
  „Das sag du ihm mal schön selber.“
  „Wenn’s sein muss. Bloß noch’n Kaffee.“
  „Lass dir ruhig Zeit mit dem Aufwachen. Dann fällt dir eventuell auch wieder ein, dass unsere Oberschildkröte freitags um diese Zeit längst in ihrer Bucht am Lago Sul rumpaddelt.“
  „Dann eben morgen.“
  „Morgen? Morgen ist Sonnabend“, sagte sie, und bevor sie auflegte: „Montag. Verschlaf ’s nicht! Hörst du?!“
  Ednas freundliche Ermahnung nahm er kaum wahr, weil ihm Paolas helle Stimme nicht aus dem Ohr ging, bis endlich auch die Zeile eines Kinderreims von jenen längst verwehten Stränden angetrieben kam, mit dem Nonnina die streitenden Schwestern damals getrennt hatte: „Wer eine Muschel findet, darf sie auch behalten.“

Stilson kam zurück. Er legte Paliotti den Anzeigenteil des Correio auf den Tisch. In der Rubrik „Massage und Entspannung“ war eine Annonce rot umkringelt.
„Aretuza“, sagte Wagner und schob den Zettel mit Adrianes Handynummer neben die markierten Zeilen.
Paliotti beugte sich vor, verglich die Nummern und las den Anzeigentext. Als er über eine Abkürzung stolperte, die er nicht verstand, lehnte er sich wieder zurück. Stilson sah er nicht an. Ein Bem-te-vi vorm Fenster reichte ihm. Noch eine – wenn auch schweigende – Spottdrossel vorm Schreibtisch? Nein danke! Da quetschte er sich lieber das Doppelkinn auf der Hemdbrust breit.
  „Eine Garota? Hattest also Recht“, grummelte er.
  Wagner setzte sich an seinen PC. Nach einer Pause sagte er: „Sie kommt morgen.“
  „Wie bitte? Du hast sie angerufen?“
  „Ich war bei ihr.“
  Das riss Paliottis Kopf hoch.
  „Was denn, du hast ihre Adresse?“
  „SQN 312, direkt über dem Fujioka-Laden.“
  „Woher denn? Hat dir Hilton wieder geholfen?“
  „Nein.“
  „Mensch, Wagner! Mach doch mal den Mund auf!“ Wagner führte seine Maus spazieren.
  „Hallo! Senhor Wagner Stilson Valdes! Jemand zu Hause?“
  „Ja.“
  „Mamma mia, nu sag doch mal endlich was!“
  „Sonnabend (klick) 16 Uhr (klick) hier im Büro (klick) Zeugeneinvernahme (klick) im Fall roter GOLF (klick) GTI. (klickklick)“
 „Das hab’ ich ja kapiert. Aber wie hast du sie denn aufgespürt?“
  „Unwichtig.“
  „Verdammt noch mal! Sag mir endlich, woher du die Adresse hast. Vom Correio?“
  „Nein.“
  „Wie bist du denn überhaupt auf diese Aredingsda-Anzeige gekommen?“
  Wagner lieβ seinen Bildschirm nicht aus dem Auge.
  Dann sagte er leichthin:
  „Mit Porteira-Logik.“
  Paliotti schoss wütende Blicke auf den Kollegen ab, doch als sich auf dessen Hemdrücken keine Brandlöcher zeigten, pfefferte er die zusammengeknüllte Zeitung in den Papierkorb und rieb sich die Nase. In der öden Gegend Stilson wachsen immerhin Disteln. So viel wusste er nun.

Sonnabend
Dona Rosa gibt ihr Samstagmorgen-Konzert. In Paliottis Spüle klirrt Unabgewaschenes der laufenden Woche im Takt des Fleischklopfers, den seine Nachbarin hinter einer dünnen Betonwand in ihrer Küche schwingt. Wenn es so lange dauert wie heute, bis er gegen ein Messer getauscht wird und das Tack-Tack des Zwiebelschneidens einsetzt, dann hat es nebenan entweder wiedermal nur zu zähem Rindfleisch gereicht, vermutet Paliotti, oder er hat sich darauf einzustellen, dem versammelten Nachbarclan bis weit ins Geäst einer verzweigten Unterhaltung am Mittagstisch folgen zu dürfen. Verständlicherweise fürchtet Paliotti deshalb Geburtstagsfeiern in Dona Rosas munterer Verwandtschaft, die auf ein Monatsende fallen!

Er trägt sein Frühstück zum Schreibtisch, Kaffee, Joghurt, Banane. Ein verschwitztes, blassblaues T-Shirt baumelt über knielangen, grün-gelb-blau gestreiften Boxershorts, aus denen mancher Sumoringer rutschen würde und die er trug, da er sie bequem fand. Von Mateldas uneingestandenem, aus schlechtem Gewissen aufkeimenden Wunsch, aus ihrem Sohn würde doch noch ein überzeugter Brasilianer, ahnt er nichts.
  Als er das Tablett auf dem Schreibtisch absetzt, zuckt er zusammen. Dona Rosas Nieser, der Schlussakkord jedes ihrer Morgenkonzerte, hört sich selbst in Paliottis Sala noch an, als seien ihm in der Küche sämtliche Blechschüsseln gleichzeitig aus dem Regal gefallen, nur dass deren Geschepper der selbstzufriedene Beiklang fehlen würde, mit dem dieses gewaltige EECH! über Fleisch- und Zwiebelstücken explodiert.
  Während er Bananenscheiben aus einem Schälchen löffelt, glättet seine freie Hand die Anzeigenseite des Correio, die er gestern aus dem Papierkorb gefischt hatte, als Stilson irgendetwas ausdruckte. Er hatte sie in den Helm geknüllt und war gruβlos gegangen.

Joghurt kleckst aufs Zeitungspapier, Paliotti wischt sich ärgerlich den Schnurrbart ab, reibt die Hand auf dem Schenkel trocken und beugt sich wieder über die Anzeige:

Aretuza, schokobraun u. erdbeersüß,
stdf.Brste u. kurv.PP; pik.Pos.
+ Acc., Küsse a.a.d.M., kompl.Progr.,
zärtl.o.wild, f.d.M.m.Anspr.,
empf.in Slips, a.Hot/Mot. XXX - XXX.

Diesmal schafft er es über alle Abbreviaturen. Sogar ‚Accessoires‘ hat er – wie Stilson sagen würde – entkryptet. Bei den standfesten Brüsten stockt er jedoch und versucht, sich stattdessen staudenförmige vorzustellen. Vergebens. Paliotti belässt es bei den klassischen Konturen. Er durchkämmt die Anzeigenspalten nach weiteren Namen. Aretuza ist eindeutig der exotischste. Wo hat sie den wohl aufgeschnappt? Jede Wette könnte er darauf eingehen, dass Adriane auch nicht weiß, was das für fremde Federn sind, mit denen sie sich schmückt. Und seine Neugier kitzelt, stellt er fest. Dann geht er duschen.

Ehe er den Fahrstuhl betritt, stülpt sich Paliotti seinen Sturzhelm über. Den Platz, den er in der engen Kabine so neben sich schafft, hat allerdings selten jemand beansprucht, seit er die drei Stockwerke des Bloco G auf und ab pendelt. Zwängt sich tatsächlich jemand neben ihn, ist es ein verschlafenes Schulkind. Gewöhnlich heben sich ihm abwinkend Hände entgegen, wenn sich die Tür bei einem Zwischenstopp zur Seite schiebt, Frauen, die ihm noch nicht begegnet sind, springen quieksend vor einem Paliotti zurück, der, bis er sich einmal wie Darth Vader im Spiegel einer Farmácia entgegengestampft kam, meinte, seine Rasierwassermarke wechseln zu müssen.

Auf dem leeren Parkdeck im Tiefgeschoss steht sein Motorrad wie ein zurückgelassenes Ausstellungsstück. Während sich das Absperrgitter schwerfällig hebt, kurvt Paliotti um Betonpfeiler und malt sich aus, wie die meisten der Autos, die ihm hier das Feld für seinen Slalom überlassen haben, möglicherweise gar nicht weit von hier, auf alle Fälle familiär bestückt, unter und vor Supermärkten auf Parkraumsuche grantig gründeln. Schadenfroh röhrend, könnte man sagen, schieβt die Yamaha vor einer Wolke aus Abgas und Staub die Rampe hinauf.

Um diese frühe Mittagsstunde ist es im Büffetrestaurant ‚Calamares‘ noch leer. Der Inspektor reserviert sich mit dem Helm einen Tisch an der Seitenbrüstung und schaufelt am Salatbuffet rohe Broccoli auf seinen Teller. Krebsvorsorge nennt er das. Früher wechselte er gelegentlich zu Roten Beeten, doch seit er sah, dass sein Körper mit ihrem Farbstoff nichts anzufangen weiβ, lässt er’s bleiben. Auf seinem Gemüseberg balanciert er zwei magere Fleischscheiben vom Grill zu seinem Platz und eine halbe Limone als Dressing, von Salatsoβen fernab der Bixiga hält er nicht viel. Um nicht mit einer Bierfahne im Büro aufzukreuzen, trinkt er Mineralwasser. Bald schon legt er das Besteck zur Seite und fischt aus einem handtellergroβen Notizbuch Aretuzas Annoncenschnipsel. Den Text kennt er längst auswendig.
  Das Lokal füllt sich, der Ton der Kellner am Getränkeausschank wird ruppiger. Paliotti starrt auf sein Glas und überlegt, wonach er Adriane in einer Stunde fragen will. Als ihm nur noch Fragen einfallen, die nicht das Geringste mit dem Diebstahl des GOLF zu tun haben, steckt er sein Kritzelheft ein, stöβt den Stuhl zurück und bahnt sich seinen Weg, den Helm vorm Bauch, zur Kasse.

Im Internet-Schuppen Três-Dabbeljuh an der W3 zwängt sich Paliotti in eine der schmalen Kabinen vor den Monitor. Die neugierigen Baseballkäppis neben seinen Schultern – Schirme nach hinten, versteht sich – wird er im gleichen Moment los, wie sich vor ihm Google öffnet.
  ‚Geht Ballern! Aretuzas sind noch nischt für euch!‘ schickt er ihnen an die Joysticks nach. Ploing, ploing, ploiiing folgt die Antwort. Paliotti setzt sich den Helm auf.

Als er das erste Mal mit Stilsons Hilfe im Web gestöbert hatte (nach einem neuen Auspuff für die XVS), war es ihm ergangen wie bei einer Feijoada, bei der er sich auch nach langer Angelei nie sicher ist, ob im Suppentopf nicht doch Fleischigeres schwimmt als das Geknöchel, was man sich schlieβlich auf den Teller klackt. Doch jetzt, obwohl er, nach einer knappen Stunde dem dämmrigen Laden entkommen, breitbeinig über dem Motorrad stehend in der Mittagsonne Mühe hat, das Gekritzel in seinem Notizbuch zu entziffern, ist er mit der Ausbeute seines heutigen Fischzugs ganz zufrieden. Immerhin ist ihm eine Nymphe ins Netz gegangen und lt. Wikipedia mit ‚Arethusa‘ sogar eine durchaus achtbare, brachte sie es doch nach ihrer Flucht vom Peloponnes mit olympischer Hilfe in Syrakus ‚als Hüterin der Arethusaquelle göttlich verehrt, das Haar mit Schilfhalmen geschmückt, bis auf die Münzen dieser über Jahrhunderte mächtigsten Stadt der antiken Welt‘.
  Hierzulande schaffen es die Aretuzas gerade noch in die Kontaktanzeigen, sagt sich Paliotti, während er um- ständlich den Kopf aus dem Helm zieht. Der Schweiß läuft ihm übers Gesicht, tropft von den Bartspitzen aufs Hemd.
  ‚Gibt halt zu wenig Quellen zwischen den Superquadras‘, feixt er – und fährt sich mit der Hand über den Mund.

Mit hochgeklapptem Visier zockelt er auf der Eixinho in Richtung Süden. Ein Bus rauscht an ihm vorbei. Mit dieser Adriane drin? Schokobraun und erdbeersüß? Eine kleine Drehung aus dem Handgelenk – er wüsste mehr. Was soll der Quatsch? Dieses Hot-Mot-Nymphchen wird er noch früh genug kennenlernen. Der Bus verschwindet in der nächsten Biegung. Paliotti ist mit sich zufrieden. Er hat eine Bildungslücke geschlossen. In griechisch-römischer Mythologie. Heureka! Wie wär’s, im fälligen Bericht für Machado ein bisschen damit anzugeben? Er könnte beispielsweise schreiben: ‚In dieser Nacht verschwand der rote GOLF – wie von Artemis entführt – vom Parkplatz der Delegacia.‘ Der Chef wäre hell begeis- tert. Wetten?

Die junge Frau auf der Bank im Korridor dreht ihm das Gesicht zu, als Paliotti die letzte Treppenstufe heraufgestampft kommt.
  „Inspetor Paliotti“, stellt er sich vor. Sie bleibt sitzen.
  „Sie sind Adriane? Oder Aretuza?“
  „Adriana“, sagt sie. Auf ihrer Stirn, einschlieβlich der Faixa aus dunkelviolettem Glitzerband, einem guten Drittel des ovalen Gesichts, trennen zwei senkrechte Kerben die Brauen. Dutzende in die gestutzte schwarzbraune Naturkrause eingeflochtener heller schattierter Zöpfchen aus Kunsthaar fallen ihr längs der ausgeprägten Wangenknochen und einer kräftigen Kinnparabel vom Mittelscheitel auf die Brustansätze. Dort liegen sie verstreut wie Schlangenkinder in der Sonne. Paliotti starrt sie an.
  „Waren Sie schon mal hier?“ Kopfschütteln.
  Sie nimmt ihre Handtasche aus Leder-Patchwork von den Knien. Beim Aufstehen zerrt sie ihren Rocksaum nach unten. Paliotti wendet sich ab, öffnet die Bürotür, geht vor ihr ins Zimmer. Er stemmt das Schiebefenster auf und rückt ihr einen Stuhl neben die Tür. Zu nah vor seiner Nasenspitze will er sie nicht haben.
  Ja also, worum es ginge, wisse sie ja wohl schon vom Kollegen Stilson, der sicher jeden Augenblick einträfe. Bis dahin könne man sich ja schon mal den Personalien widmen, meint er und kommt sich steif und albern zugleich vor. Er sinkt in seinen Sessel, parkt den Sturzhelm auf dem Boden und fordert Adriana mit einer Handbewegung auf, sich zu setzen. Nach zwei flinken Seitenblicken tut sie das vorsichtig, stellt sich die Handtasche auf die Schenkel und sucht in ihr nach der Identitätskarte. Dabei lösen sich die flachen Hacken ihrer Riemchensandaletten vom Boden. So schnell lässt sich jedoch nicht finden, worum der Inspektor gebeten hat, und als der kramenden Adriana allmählich die matt glänzenden Knie auseinanderdriften, beugt sich Paliotti tief über die Schublade, in der nichts weiter liegt, als sein schäbiger Rasierspiegel.
  Es bleibt ihm aber keine Zeit, sich eingehend zu betrachten, weil Stilson mit schwungvollem ‚Tag, allerseits!‘ die Tür hinter sich zuknallt und Adriana, die mit ausgestrecktem Arm darauf wartet, dass sich der gespannte Jackettrücken Paliottis in sein nicht ganz so glattes Gesicht zurückverwandelt, ihr Plastikkärtchen aus der Hand nimmt. „Fürs Protokoll“, sagt er und geht zu seinem PC. Paliotti richtet sich schwerfällig auf und guckt ihm verdutzt nach. Was denn, dieser Paradiesvogel soll Stilson sein? Blassrosa Jeans mit Bügelfalten, nachtblaue, weiβ geschnürte Bootsschuhe, himbeerrotes Polohemd, der Kragen apfelgrün. Schließlich all das Kunterbunt gekrönt von einer safrangelben Baseballkappe.
  Paliotti verschlägt’s die Sprache, sogar sein ‚Mamma mia‘ ist irgendwo stecken geblieben. An Edna reicht er nicht heran. Die hätte Blättchens farbenfreudige Verwandlung mit einem grellen, eindeutigen Kommentar geschmückt, während er auf seinem Schnurrbart kauend widerwillig konstatiert, dass in der öden Gegend Stilson auβer Disteln nun auch Blumen wachsen. An Wochenenden jedenfalls.
  Er blickt zu Adriana hinüber. Was gibt’s denn so Lustiges in ihrer Tasche? Findet sie Wagners Outfit etwa auch zu krass? Ihr glitzerndes Stirnband und das Pink ihres T-Shirts passen doch prächtig ins Programm. Viel- leicht macht sie sich nicht über Stilson lustig sondern über ihn in seinen traurig dunklen Klamotten (die Edna einmal staunen lieβen, was alles in Brasilien nicht verboten sei)? Na, wenn schon! Beim nächsten Mal erscheint er eben in den gestreiften Boxershorts, wie sie Mama ihm aus dem Stoff der Fallschirme schneidert, die ihr Mattia von einer seiner Vertretertouren mitgebracht hatte. Wetten, dass es der liebe Wagner ist, dem die Klappe dann runterfällt! Was aber das Grinsen Aretuzas angeht – die hat wenigstens Lippen unter der Nase und keine Streichhölzer wie dieser Bonbon-Valdes da vorm Monitor.

Stilson unterbricht seine Tipperei, dreht sich zu Adriana um und fragt sie nach ihrem Beruf. „Logisch“, sagt er mit einem Seitenblick zu Paliotti und klopft die Antwort laut buchstabierend mit einem Finger so in die Tasten, als seien die plötzlich kyrillisch beschriftet: Ca-be-lei-rei-ra. Adriana wippt inzwischen auf den Zehenballen, irgendwas in ihrer Tasche klimpert. Paliotti klatscht einen Plastikordner auf die Schreibunterlage.
  „Können Sie die nicht mal wegstellen?“
  „Nicht auf den Boden!“
  „Hä?“
  „Sonst kriecht das Unglück rein“, sagt sie und nestelt ohne aufzustehen die Trageriemen um die Türklinke. „Das weiß ich von meiner Freundin. Die ist aus Portugal, da kenn’ sich die Leute aus mit Gespenstern.“
  „Na, wenn das so ist …“, brummt Paliotti, fischt neben seinem Sessel nach dem Helm und schiebt ihn auf der Tischplatte so weit von sich weg, bis er wie ein Zensurstempel Adrianas untere Hälfte schwärzt; ein Versuch, dieses ‚empf. in Slips‘ loszuwerden, das ihn wie ein Schluckauf plagt, seit ihm ein immer mal wieder hochrutschendes Röckchen gegenübersitzt.
  „Am Sonnabend, dem …“, beginnt Paliotti und schlägt den Ordner auf.
  „… dem 10. September haben Sie den Diebstahl eines GOLF gemeldet. Richtig?“
  Sie habe ja nicht mal ein Fahrrad, sagt Adriana. Dazu bietet sie dem Inspektor ein schiefes Lächeln an. Dass ihr oben rechts ein Schneidezahn schräg steht, entdeckt er deshalb erst später.
  „Ihr deutscher Bekannter hat also zusammen mit Ihnen an diesem Tag …“, beginnt er diesmal.
  „Kann schon sein.“
  „Kann sein, kann nicht sein! Geht’s auch genauer?“
  „Sonnabends war’s, kann sein, September.“
  „Es war der 10. September. Steht hier schwarz auf weiβ.“ Er tippt auf den Bericht.
  „Na, wenn Sie’s eh schon wissen …“
  „Was du aussagst, gehört ins Protokoll – nicht, was wir wissen!“
  „Und was soll ich aussagen?“

Der Schirm von Stilsons Kappe ruckelte während des Geplänkels zwischen Adrianas Stirn und dem Helm Paliottis wie der Schnabel eines Tukans von einer Schwarzkirsche zur anderen hin und her. Schließlich bleibt er am Nasenrücken des Inspektors hängen, kriecht vorsichtig höher, bis Paliotti sich aussuchen könnte, ob er das, was unter Stilsons Sonnenblende aufblitzt, für Brillengläser oder Schadenfreude hält, bekäme er nur die Augen von Adrianas flapsig vorgewölbter Unterlippe. Doch regungslos hängt er in seinem Stuhl, zermartert sich das Hirn, woher er dieses Kräuselmäulchen kennt, keine Faust kracht auf die Schreibtischplatte, als Auftakt etwa für ein „So nicht! Herzchen!“ Zwei, drei tiefe Atemzüge später fällt’s ihm ein, er steht auf, reibt sich die Nase, geht zum Fenster.
  „Sag mal Stilson, findest du nicht, dass unser Gast“, Paliotti sagt tatsächlich ‚Gast‘, „dieser Xica da Silva ähnlich sieht?“
  „Wem?“
  „Hast du nie ‚Xica da Silva‘ gesehen?“
  Wagner zupft an seinen Bügelfalten. Dann traut er sich was:
  „Die ist schon 200 Jahre tot.“
  „Mensch, Stilson! Ich mein doch die aus der Novela.“
  „Taís Araújo?“
  „Meinswegen. Also?“
  Andrea Paliotti hätte sich denken können, dass der liebe Kollege nicht mitspielen und bestenfalls als Antwort mit seinem Schnabel liegende Achten in die Luft zeichnen würde, wie er’s jetzt tut. Schon bei dem Gedanken, einer Zeugin Honig ums Maul zu schmieren damit sie redet, sträubt sich dem neunmalklugen Vogel Wagner Stilson das Gefieder. Erst recht, wenn diese Zeugin eine Asphaltprimel ist. Noch dazu mit schwarzen Wurzeln.
  Indessen hat Adriana, weil sie vermutlich gar nicht mehr kapiert, in welcher Veranstaltung sie sitzt, ihr Fläppchen eingerollt wie ein von allen ignoriertes Spruchband.
  „Machen Sie das doch nochmal“, sagt Paliotti, als er sich wieder gesetzt hat.
  „Was?“
  „Na das …“, er schiebt Adriana seinen Unterkiefer entgegen.
 „Nee.“
  „Numuchnsuschuun“
  Adriana kichert, Paliotti entspannt sich und Stilson greift sich an den Schnabel.
  30 Minuten später ratscht der Nadeldrucker.

Die heute zur Einvernahme erschienene Adriana Leite Fernandez (Personalien s. Blatt 1) gibt in der Diebstahlssache GOLF GTI, amtliches Kennzeichen XX, Folgendes zu Protokoll:

Am 10. September d. J. habe sie zusammen mit dem aus Deutschland stammenden Gunter K. bei der Delegacia an der W3 den Diebstahl des o. g. Fahrzeugs (Halter: G. K.) angezeigt.
Der Wagen war am Abend des 9. 9. gegen 19 Uhr auf dem Parkplatz des Bloco K, SQN 407, abgestellt worden. Sein Verschwinden wurde am folgenden Vormit- tag gegen 11 Uhr bemerkt.
Auf Nachfrage erklärt die Zeugin, der GOLF verfüge über kein Alarmsystem. Die vorhandene Lenkradkralle wurde beim Parken des Fahrzeugs nicht angelegt, da man am selben Abend noch einen Restaurantbesuch geplant hatte, der später nicht zustande kam. Weitere sachdienliche Hinweise können von der Zeugin nicht gegeben werden.

Auf die Frage, ob G. K. bis zu seiner Rückkehr nach Deutschland am 23. 09. d. J. seitens polizeilicher Dienststellen oder auf anderem Wege Informationen über den Verbleib seines Fahrzeugs erhalten habe, lässt sie sich wie folgt ein:

„Mein Freund war stinksauer, als sein Auto weg war. Er sagte, ich wär schuld, dass er die Kralle nicht festgemacht hat. Weil ich später keine Lust hatte, mit ihm Essen zu gehen und lieber Pizza bestellt habe (die Zeugin bezieht sich hier auf den Abend des Diebstahls, also auf den 9. 9.). Auch als wir die Anzeige gemacht hatten, hörte die Meckerei nicht auf. Also bin ich schon am Sonnabendnachmittag (10. 9.) nach Luziánia zurück. Sonst bin ich meistens bis sonntags abends geblieben. Wir haben uns danach nur noch ein Mal getroffen. Das war der Tag, bevor er weg musste (22. 9.). Ich habe da noch ein paar von meinen Sachen aus der Wohnung geholt. Den GOLF habe ich auf dem Parkplatz (des Bloco K) nicht gesehen. Weitere Fragen habe ich nicht gestellt. Um die Stimmung nicht zu versauen.“ (Auch von G. K. sei das Thema Autodiebstahl nicht mehr an- gesprochen worden.)
Ergänzende Anmerkungen des Protokollanten: Befragt, ob G. K. bei diesem Besuch oder während vorangegangener Telefonate den Ortsnamen „Santa Maria“ erwähnt habe, gibt die Zeugin an, sich diesbezüglich nicht genau erinnern zu können, antwortet aber auf nochmaliges Nachfragen mit „Nein“. Auch von einer Fundbenachrichtigung – üblicherweise durch eine Streife der Polícia Militar erfolgend – wisse sie nichts.

Gelesen und bestätigt:

———————————


Ist nun ein Auto vorm Bloco K verschwunden oder gleich der ganze Parkplatz? Geschenkt. Wegen dieser Lappalie wird er sich nicht mit Stilson anlegen. Grammatik ist kein Motorrad, sagt sich Paliotti und wo er sattelfester ist, das braucht ihm niemand zu sagen. Er liest den Rest, nickt und reicht das Protokoll weiter. Adriana beugt sich über den Text. Beim Lesen murmelt sie. Als Paliotti fünf Minuten später mit einem Cafezinho ins Zimmer zurückkommt, das Tässchen wie einen Schmetterling behutsam auf dem Schreibtisch absetzt, stolpert sie gerade durch Stilsons letzte Parenthese.
  Paliotti zupft einen Kugelschreiber aus dem Jackett.
  „O. K. ?“
  Sie hat ihren Namen gemalt, den Ausweis in ihr Täschchen gesteckt und schon die Hand am Türgriff, als Stilson sich einschaltet.
  „Minütchen. Hab’ da noch was.“
  Mit einem Schnellhefter deutet er auf den Stuhl neben der Tür.
  Paliotti hält sich die Kaffeetasse vor die Nase.
  „Wir brauchen noch’n paar Angaben für die Statistik.“ Adriana zögert, setzt sich, in ihrer Handtasche klimpert’s wieder. Stilson öffnet den Hefter. Er schlägt das obere Blatt einiger zusammengetackerter Seiten betulich um. Über den Tassenrand blinzelnd, erkennt Paliotti den weißen Fuchs im schwarzen Kreis: das CaRoPa-Logo! Der Inspektor verschluckt sich. Hat Wagner sein geheimnisvolles Bastelwerk tatsächlich zum Laufen gebracht? Folgt jetzt womöglich die erste Probefahrt? Ausgerechnet mit einem GOLF, von dem das Bemerkenswerteste eine mit Crack gepolsterte Wagentür ist?! Eigentlich hat Paliotti die Stilson’schen Überraschungseier satt. Doch was dem neuesten, von Wagner wochenlang am Bildschirm ausgebrüteten entspringt, das will er wissen. Er fühlt sich geradezu berechtigt, endlich zu erfahren, wozu er all die öden Nachmittage im Rücken eines Tastenklapperers und Headsetwippers ertragen musste, oft gar nicht weit davon entfernt, als erster Inspektor in die Kriminalgeschichte einzugehen, der seinen Kollegen mit dem Mauskabel erdrosselte.
  Also überlässt Paliotti jetzt das Feld dem strebsamen Kollegen, um später, als Adriana Tränen in die Augen schießen, die eigene Neugier zu verwünschen.
Wann sie den Deutschen kennengelernt habe, möchte Stilson wissen und schreibt mit.
  „Seit April haben Sie ihn jedes Wochenende … äh … besucht?“
  „Na, erstma nich“, sagt Adriana. Der Deutsche habe sie angerufen. Zweimal kam er in ihre Kitchenette. Da hätte’s ihm aber nicht gefallen:
  „Die Klospülung war im Eimer und im andern Zimmer schlief mal ’ne Kollegin.“
 „Auch ’ne Stricherin?“
 Adriane zupft an ihrem Röckchen, fixiert Stilsons apfelgrünen Kragen und sagt leise:
  „Ich nenn Sie ja auch nich Bulle.“ Paliotti grunzt. Stilson bleibt friedlich.
  „Wenn dir Garota do programa lieber ist, bitte. Fragt sich bloß, warum du als Beruf ‚Friseuse‘ angibst?“
  „Weil ich eine bin!“ Das soll sie erklären.
  Sie hätte eine entsprechende Ausbildung, erzählt sie.
  Ihr Freund … Wer?
  Na, der Deutsche. Der wollte sie da weg haben. Vom Strich?
  Klar.
  Also weiter.
  „Ich bin zu meiner Familie zurück nach Luziânia und hab dort ’n Kurs gemacht …“
  „ … den dir dein Freund bezahlt hat?“
  „Nee, die Heilsarmee.“
  „Wichtig für die Statistik?“, fragt Paliotti dazwischen und ärgert sich, weil Stilson seinen Einwurf ignoriert und stattdessen von Adriana wissen will, ob sie jedes Wochenende bei ihrem Freund in Brasilia verbracht habe? (Ein mit Blümchen und Schmetterlingen beklebtes Quartheft aus Adrianas Handtasche gibt Auskunft. An einem Wochenende hatte sie in Begleitung des Deutschen den Geburtstag ihres Sohnes, der ja bei der Oma in Luziánia wohnt, gefeiert, an einem anderen war ihr Freund auf irgendein Fest gegangen, zu dem sie nicht mitdurfte, und schließlich hatte ein Treffen ausfallen müssen, weil sie krank gewesen war.) Stilson schreibt mit. Erst dann sagt er: „Sehr wichtig!“ Paliotti reibt sich die Nase. Versucht Wagner da gerade, Adriana in den GOLF-Diebstahl reinzuziehen und stürzt sich deshalb auf drei Wochenenden wie ein Tukan auf seine Kirschen? Und falls sein CaRoPa was ausspuckt, labert er dann wiedermal von ‚weekend gaps‘ und Sehnsuchtsgipfeln? Alle 90 Sekunden wird hierzulande ein Fahrzeug gestohlen; sogar Paliotti leuchtet ein, dass ein am Asa Norte geklauter GOLF weniger pro Wochenende statistisch nicht mal so viel wiegt wie ein Rastazöpfchen Adrianas.

Er starrt auf Stilsons inzwischen über Tasten gebeugten himbeerroten Rücken. Kriegt der Parserfuchs jetzt endlich Futter? Zeit wär’s. Am liebsten würde er die gesamte Veranstaltung abbrechen, den Kollegen Strandbuddler seinem Schicksal überlassen und zusammen mit Adriana einen Ritt auf der Yamaha machen. Auf jeden Fall braucht er Bewegung, sonst schläft er ein.

Am Fenster hält er seine Nase kurz dem Nieselregen hin, der sich herangeschlichen hat. Er schiebt das Fenster zu. Stilson tippt noch immer, Adriana guckt böse.
„Klappern gehört zum Handwerk“, raunt ihr Paliotti zu, eine Hand auf der Türklinke.

Auf dem Korridor spielt Paliotti Straßenbahn. Als Kinder hatten sie dieses Spiel nach einem Ausflug zum alten Memorial do Imigrante erfunden. Dort vorm Eingang zum Museum hatte damals ein ausgedienter Waggon der Linie 12 gestanden – ein Erbstück aus der Glanzzeit elektrischer Trams in São Paulo. Selbstverständlich war er mit Laura in das Museumsstück geklettert, hatte die bettelnde Paola zu sich auf die Plattform gezogen, um mit seinen Schwestern im hölzernen Käfig des Wagens rumzuturnen. Später beim Straßenbahnspiel in der Bixiga waren er und Laura mit hochgereckten Armen unter den Wäscheleinen Nonninas um die Wette geschlurft; die Regeln waren einfach: Beim Start stand man sich gegenüber, jeder am Ende seiner „Oberleitung“, unter der man auf Kommando vor und rückwärtsfahrend versuchte, den anderen einzuholen. Wer seine Finger dabei von der Leine löste oder seine Sohlen vom Betonboden, der hatte schon verloren. Als Ausgleich für den Größenvorteil Lauras musste diese ihre jüngere Schwester wie einen Tender hinter sich herziehen. Dennoch gewann Andrea selten und nur dann, wenn die Lauras Taille wie ein Kapuzineräffchen umklammernde Paola ins Stolpern geraten war.

Vierzig Jahre älter, spielt Paliotti Straßenbahn nach Regeln aus der Rückenschule. Statt einem, reckt er beide Arme hoch und balanciert auf Zehenspitzen. Er greift nicht nach der Oberleitung. Doch! Die gibts auch auf dem Korridor der Delegácia: Ein Kabelzweig, der aus dem Treppenschacht wächst und sich oberhalb der Türstürze, von Zimmer zu Zimmer magerer, bis ans Flurende hangelt. Ob ebenso solide angebracht wie einst Nonninas Plastikschnüre, hat er nie überprüft. Finger weg von Stilsons Lebensader ins Rechenzentrum, lautet die Devise. Vor allem, wenn der Kollege derart nervt, dass ein Elefant auf Hinterbeinen jetzt den Gang entlangtanzt. Paliotti schafft es heute einmal öfter als gewöhnlich. Das gibt ihm die Gelegenheit sich auszudenken, was einen Paradiesvogel von der Palme bringen könnte. Dynamischen Schritts den Schreibtisch ansteuernd, könnte man fragen: „Na, wieder Sehnsuchtsgipfel gefunden? Oder GOLF-Klaukuhlen?“
   Im Büro kommt er gar nicht zu Wort. Da redet Stilson. Was heißt ‚redet‘? Einen Wortschwall kippt er über Adriana, die ihm wehrlos ihre hellen Handteller entgegenstreckt: Seht doch, ich hab nichts zu verbergen!
   Paliotti hält jede Wette, dass Stilsons Probelauf ein Reinfall war. Und seinen Frust darüber lässt er nun an diesem armen Nymphchen aus, wirft ihm BEGÜNSTIGUNG, BEIHILFE, KOMPLIZENSCHAFT, STRAFVEREITELUNG an den Kopf. Immer wieder. In Großbuchstaben. Bis es heult.
  Es reicht! Schluss mit der Suada! Stilson hat überhaupt nichts in der Hand. Beihilfe? Paliotti bekritzelt das Protokoll: LENKRADSKRALLENVERHINDERUNGSPIZZA.
Er klopft mit dem Bleistift auf den Tisch. Stilson verstummt. Adriana zieht Rotz hoch. Filmreif.


DREHBUCH: „Aretuzas Verhör“ (Ausschnitt)

IN PALIOTTIS BÜRO, INNEN / SPÄTER NACHMITTAG

ADRIANA
(sitzt auf dem Rand eines Stuhls neben der Tür, eine Handtasche auf den Knien.)
STILSON
(steht vor ihr.)
PALIOTTI
(lümmelt in einem Bürosessel hinter seinem Schreibtisch. Auf der Tischplatte Motorradhelm, Kaffeetasse, Akten u. a.)
PALIOTTI
(wendet sich Adriana zu, ist plötzlich beim „Du“.)
„Also, pass auf. Mein Kollege sagt doch gar nicht, dass du den GOLF geklaut hast …“
ADRIANA
„Na, wie denn? War doch die ganze Nacht bei meim Freund. Und Autofahrn kann ich soweso nich.“
STILSON
„Aber die Rückenlehne runterdrehn, das kannste schon.“
PALIOTTI
„Lass das doch mal, Stilson. Also, wir wollen bloß wis- sen, ob dich jemand angestiftet hat, nicht mehr wegzugehen, also an dem Abend, mein ich. Vielleicht ein Bekannter oder so.“
ADRIANA (bleibt STUMM)
STILSON
„Nun hör mir mal gut zu. Du hast immer noch nicht kapiert, in welcher Scheiße du steckst. Du riskierst eine Anzeige wegen Autodiebstahl oder diesbezüglicher Begünstigung. Und falls es vors Gericht geht, was denkst du, wem man dort glaubt? Einem deutschen Pensionär oder einer Puta? Wenn du mich fragst, mit einem Bein steckst du schon im Knast. In Zelle 17. Zusammen mit ’ner Kindsmörderin, ’ner bekifften Lesbe und irgendeiner verrunzelten Voodoo-Hexe. Besser, du kooperierst mit uns.
ADRIANA
„Was soll ich?“
STILSON
„Die Gusche sollst du aufmachen und endlich mit der Wahrheit rausrücken!“
ADRIANA
„Hab keine Gusche, und jetzt sag ich überhaupt nischt mehr.“
STILSON
„So? Na, wir können auch anders. Wie würde dir denn ein Streifenwagen an euerm Balzplatz gefallen? Jede Nacht. Dazu deinen Kolleginnen gesteckt, dass der wegen dir da steht. Kannste deinen Krempel packen und dir in Rio oder Recife die Beine in den Bauch stehen. Dass die dich dort vor Begeisterung abknutschen, is ja klar.“
ADRIANA
„Da geh ich lieber gleich nach Deutschland. Oder zu meiner Freundin nach Portugal.“
STILSON
„Nach Portugal? Bist du denn bescheuert?! Was glaubst du denn, wie viel Frischfleisch dort jeden Tag aus Afrika angeschwemmt kommt? Denkst du, mit dei- nen 30 plus will dich da noch wer? Mit Glück darfst du vielleicht in ’nem Landpuff putzen, kannst verklebtes Bettzeug schrubben und nachts pennste im Ziegenstall auf einer Strohmatratze, wo dich ab und zu ’n zahnloser Sabbergreis besteigt, der dir hinterher ’ne Handvoll Kleingeld auf ’n Bauch schmeißt und dir mit sei’m Krückstock drei auf den Blanken verpasst, falls du dich beschwerst. Vorher hat er mühsam in dir abgetröpfelt. Dazu isser nicht mal aus seinen schimmligen Liebestötern gestiegen.“
ADRIANA
(heulend)
„Hör’n se auf! Das is ja eklig.“
STILSON
„Ach nee, ich denk, du hast nichts gegen alte Knacker? Dein Deutscher ist ja auch nicht taufrisch.“
ADRIANA
(springt auf, die Handtasche rutscht ihr vom Schoß. Ein DEO-DÖSCHEN macht sich selbstständig, ROLLT auf Stilson zu.)
„Das ist gemein.“
STILSON und ADRIANA
(bücken sich gleichzeitig und stoßen mit den Köpfen zusammen.)
ADRIANA
(plumpst auf ihren Hintern.)
STILSON
(schwankt, bleibt aber stehen, stiert auf die Beine von A.) [Kamera: close-up]
PALIOTTI
(wuchtet sich aus dem Sessel, rammt die Tischkante, Motorradhelm, Papierkram und Kaffeetasse fallen zu Boden, TASSE ZERBRICHT.)
ADRIANA, STILSON und PALIOTTI
(brechen nach einem kurzen MOMENT DER STILLE gemeinsam in GELÄCHTER aus.
(In das Lachen kracht ein DONNERSCHLAG wie ein Strikeball in die Pins. Riesengroße REGENTROPFEN platschen gegen Fensterscheiben.)

ENDE IN PALIOTTIS BÜRO


Der Regen hat nachgelassen. Im Büro ist es still. Wenn Paliotti sich nach den Papieren bückt, kann er sich schnaufen hören. Stilson hatte weniger Mühe, Adriana vom Boden zu klauben. Sie hat ihm die Arme entgegengestreckt und sich an den Händen hochziehen lassen. War denn der Sabbergreis in langen Unterhosen schon vergessen? Und Stilson? Fasst eine Puta an, fragt eine Vagabunda: ‚Tut’s weh?‘ Paliotti kam sich vor wie im falschen Film, in einer Bibel- schnulze mit Saulus-Paulus oder so. Er fragte sich, ob ein Gelächter Menschen derart verändern kann, dass ein bigotter Snob zum ritterlichen Taxidriver wird.
Er wirft die Scherben seiner Kaffeetasse in den Papierkorb unter Stilsons Tisch. Dabei bemerkt er, dass der PC noch läuft. Links oben blinkt auf dem Monitor: <ERROR: data underflow>. Der Inspektor schaltet den Computer aus und öffnet das Fenster. Die Yamaha glänzt vor Nässe. Aus einem flackernden orangen Band am Horizont schiebt sich die Dämmerung über Brasilia. Andrea Paliotti setzt sich an seinen Schreibtisch und liest noch einmal das Protokoll. Unter Adrianas Kinderschrift schreibt er folgenden Zusatz:

Ergänzende Anmerkung des vernehmenden Inspetors P.:
Bei der weiteren Verfolgung des Falles sollte eine von rollenden Deodosen eventuell ausgehende Beeinträchtigung ermittlerischer Sorgfalt im Auge behalten werden.

Bevor er das Fenster schließt, streicht er ihn wieder. Draußen an der Yamaha hängen winzige Regentropfen. Im Flackern weit entfernter Blitze bildet er sich ein, sie blinzeln ihn an.

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